Im Herzen von Shikoku braut ein ehemaliger Chemielehrer aus Los Angeles aus dem reinsten Wasser Japans alle Biersorten der Welt
Wir folgen dem Niyodo durch Wohngebiete, Reisfelder, Dörfer, das Flussbett wird breiter, die Welt grüner, die Sonne scheint. Es geht bergan, wir fahren vorbei an Herbergen, vor denen bunte Karpfenfahnen wehen. An einer Stelle sehen wir eine uralte Brücke, die Aso Chinkabashi, weit führt der Fluss in Schluchten aus Grün und Grün und noch mehr Grün. Wir sind unterwegs im ländlichen Japan auf Shikoku, der kleinsten japanischen Hauptinsel, und dieser Sonnentag hat eine Schönheit, man möchte ein Gemälde aus der Wirklichkeit schneiden und in sich aufbewahren, damit man sie nicht vergisst, diese seltsame und doch vertraute Natur, diesen blauen Himmel und diesen breiten ruhigen Fluss, dessen blau-grünes Wasser als das reinste in Japan beschrieben wird und sogar einen Namen hat: Niyodo-blau.
Shikoku ist bekannt für einen 1.200 km langen buddhistischen Pilgerweg (Henro), der dem Andenken an den Mönch Kukai aus dem 9. Jh. gewidmet ist, und der zu 88 Tempeln rund um die Insel führt. In der nahen Hafenstadt Kochi gibt es eine berühmte Burg aus der Edo Zeit und den größten Open-Air Sonntagsmarkt Japans. Doch das alles lassen wir heute hinter uns. Nach anderthalb Stunden Fahrt parken wir neben einer Brücke. Unter uns sprudelt der Niyodo talwärts, grün ragen die Berge auf, wir gehen eine Auffahrt hinab und stehen vor einem Holzhaus mit Tischen und Bänken, dem Blue Brew Taproom, einer kleinen Craft-Beer-Brauerei.
Bevor er hier seine Brauerei eröffnete, unterrichtete Ken Mukai an einer High School Chemie und Biologie und Sport. Jedes Jahr verbrachte er seine Ferien in Japan – erst im Westen der Hauptinsel Honshu in der Präfektur Shimane, seit 1995 auch hier, auf Shikoku. Als ein Freund bei einem seiner Besuche salopp meinte: „Komm zieh her, ich besorge dir ein Haus,“ erwiderte er scherzhaft „Wenn du das tust, eröffne ich eine Brauerei.“ Einen Monat später klingelte bei ihm zu Hause in L.A. das Telefon. Der Rest ist eine lange Geschichte, die er uns erzählt, während wir vor dem Schankraum im Schatten sitzen. Vögel zwitschern. Sonnenlicht fällt in sein Gesicht, das lächel, wenn er erzählt. Eine Gruppe japanischer Wanderer kommt auf den Hof. „Wir haben noch nicht geöffnet, aber ich lasse euch schon mal rein,“, sagt Mukai. Seine Frau Masako begrüßt die Gäste, erklärt das Probiermenu, bereitet Snacks zu. Zwei Radfahrer halten und nehmen ebenfalls in dem kleinen Vorgarten Platz. Schmetterlinge fliegen durch die Luft, ein Vogel umkreist das Vogelhäuschen, der Fluss plätschert talwärts.
Craft Beer gibt es in Japan seit den 90er Jahren. Immerhin ist Bier das am meisten konsumierte alkoholische Getränk im Land, die älteste Brauerei ist die Sapporo Brauerei, die 1888 vom Staat gegründet wurde, die bekannteste Biermarke das international bekannte Kirin.
„Alles, was ich früher unterrichtet habe, lebe ich hier“, erzählt uns Ken Mukai. So hatte er vor Inbetriebnahme seiner Brauerei die Wahl, entweder eine Kläranlage für 150.000 Dollar zu kaufen oder sich was einfallen zu lassen. Er tüftelte, korrespondierte ein Jahr mit verschiedenen Universitäten, experimentierte mit dem Abwasser anderer Brauereien, behandelte es mit Holzkohle, Ozon, UV-Licht und Flusspflanzen und baute am Ende ein Klärsystem aus Tanks und Pumpen und Schläuchen, das nur 1% des ursprünglichen Budgets kostete.
Das zeigt er uns hinter dem Haus, ebenso wie die Quelle. Der Clou seines Bieres ist die Reinheit des Quellwassers. „Jeder beneidet uns darum. Ich kann damit jeden Bierstil der Welt brauen, ich muss nur Mineralien zugeben“, sagt Mukai. So gibt er dem Wasser zum Beispiel Gips und Kalziumsulfat hinzu, wenn das Bier „englisch“ sein soll. Jährlich braut er nur 10.000 Liter, weswegen er eine Happoshu Lizenz beantragte. Das bedeutet, er muss pro 95% Malz 5% einer anderen Substanz hinzufügen, etwa extrem verdünnte Mengen an Tee, Pürees unterschiedlicher Zutaten, was seiner Expermentierfreude entgegenkommt. Beim Satsumaimo Stout 17 sind es Süßkartoffel und Reis. Bei dem ESB 89, einem Extra Special Bitter, sind es die Blätter der Kuromoji Bäume.
Das Dorf Niyodogawa-cho ist für die Mukais nun der Ort, an dem sie alt werden wollen. „Als Lehrer war es meine Aufgabe, den Erfolg der nächsten Generation zu fördern“, sagt Mukai. „Hier möchte ich dazu beitragen, diese Gegend zum Strahlen zu bringen, so dass vielleicht andere sie genau so lieben wie wir und herkommen.“ Denn als die Mukais vor vier Jahren hier ankamen, wohnten hier 5300 Personen, inzwischen sind es um die 4800. Überall in Japan leiden ländliche Gegenden unter der rückläufigen Bevölkerungsentwicklung und Überalterung. Bis 2065 rechnet man mit einem Bevölkerungsrückgang von 30%, schon jetzt sind mehr als 35 Millionen Menschen, 27%, älter als 65. Die Grundschule des Bergdorfes wurde vor 22 Jahren geschlossen. Heute ist dort ein Hotel, das Shimonanosato, geführt von den ehemaligen Schülern. Es liegt praktischerweise direkt gegenüber der Brauerei, denn mindestens 70% seines Bieres will Mukai hier verkaufen und in Japan liegt die Promillegrenze bei 0,0%. Man kann also bleiben, an dem blauen Fluss in den Bergen von Shikoku.
(erschienen 2023 in der FAS)