Nur noch ein Foto vom tiefen Grün. Und eins von den Raben da im Nebel zwischen den Hochhäusern. Da geht einer im Büro rum. Oh, und dort, die Spiegelungen im Burggraben. Ach, und da hinten fährt schon wieder eines dieser süßen Autos mit den kleinen Reifen.
Wir sitzen im Himmel. Genauer: wir schauen vom 21 Stock des Peninsula Hotels auf Tokio, tief hinein in eine milchig silberne Welt aus Geschäft und Beton, aus Leben und Stahl, aus Menschen in rollenden Blechkisten und Wolken und Licht. Und direkt vor uns, mittendrin in diesem unwirklichen Panorama liegt ein Wald, und in diesem Wald, verborgen vor der Welt, vor unseren Augen, wohnt Tennō Naruhito, der 126. Kaiser von Japan. Ist er zu Hause? Ist er es nicht? Man weiß es nicht.
Mehr als 37 Millionen Menschen leben im urbanen Raum Tokio-Yokohama, weswegen das Surreale hier oben nicht nur der weite Blick über die Viertel Roppongi, Shibuya, Shinjuku oder Yotsuya ist, sondern die unwirkliche Stille vor dieser weiten Welt aus Leben. Lautlos schiebt sich der Verkehr über die Straßen. Minimenschen laufen unter aufgespannten durchsichtigen Schirmen auf den Bürgersteigen Richtung Hibiya Park. Man könnte jetzt ebenfalls da unten herumlaufen, mit der grünen JR Linie bis zur Nippori Station fahren und zu Fuß das Viertel Yanaka erkunden, wo die Straßen so dörflich sind wie in vergangener Zeit. Man könnte sich der Gegend um die Station Ginza ruinieren, wo irgendwer das komplette Luxus-Internet-Shopping in Form von Hochhäusern auf die Straße gekippt hat. Man könnte köstliches, vegetarisches Shojin-Essen aufs Zimmer kommen lassen, das nach der Philosophie „eine Suppe, ein Gemüse“ (Ichijuu Issai) zubereitet ist. Man könnte im 5.Stock zu Unterwassermusik schwimmen und diese Aussicht nochmal genießen, nur deutlich tiefer gelegt, vor breiten Fenstern auf einer beheizten Bank in einem meterlangen Whirlpool. Oder noch etwas tiefer, im 2. Stock, in einem Separee des kantonesischen Fine Dining Restaurant Hei Fung Terrace. Man könnte auch zum Nachmittagstee ins Foyer gehen und sich ein bisschen mit Hiroshi von der Rezeption über die japanische Schriftstellerin Higuchi Ichiō unterhalten. Oder über Haruki Murakami, mit dem er studiert hat.
Doch irgendwann macht es einen ruhig, dieses Dasitzen und Gucken. Wolkenbänke ziehen wie Rauch über den schier unendlichen Seitlingswald aus Beton. Man schaut in die urbanen Weite, die so sichtbar und gleichermaßen verborgen wie das Land ist, und die daran erinnert, wie wenig man außerhalb von sich selbst begreifen kann.
Langsam wird es dunkel. Es ist als würde sich der Himmel dimmen, und die Hochhäuser zu funkeln beginnen. Nebenan im Bürogebäude fährt die leere Rolltreppe. Gegen 21 Uhr erlöschen Lichter am kaiserlichen Palastgarten. Der Wald wirkt immer mehr wie ein dunkler Fleck in einer Platine. Noch ein Foto, das ist jetzt aber das letzte.(erschienen 2024 in der FAS)
