
erschienen 2001 in der Süddeutschen Zeitung: Und sehe, dass wir nichts wissen können: Was zeigen die Medien vom Krieg?
- Das Bild sieht aus wie das Muster einer Küchenschürze: rosa Kreise und kleine Stäbe auf weißem Grund. Es sind vergrößerte Milzbrandbakterien. Im Krieg gegen den Terror hat die Macht der Bilder eine Dimension erreicht, die jedermann erkennen, doch kaum jemand noch übersetzen kann. Als der Sprecher des Weißen Hauses, Ari Fleischer, vor ein paar Tagen sagte, dass die Amerikaner nun darauf achten sollten, was sie sagen, hätte er eigentlich hinzufügen sollen: „Und was sie sich ansehen.“
Während des Vietnamkrieges war es ein Foto, das die Weltöffentlichkeit gegen den Einsatz der USA einnahm: ein nacktes vietnamesisches Mädchen, das schreiend vor dem Angriff amerikanischer B-52 Bomber wegläuft. Während des Golfkrieges 1991 strahlte der amerikanische Fernsehsender CNN dann exklusive Bilder aus: ein schwarzer Bildschirm, durch den ab und zu weiße Blitze schossen. Das Helle waren Raketen, und sie sahen aus wie Sternschnuppen.
Heute sind die Bilder wieder undeutlich und unscharf. Die Milzbrandbakterien, tausendfach vergrößert, sind mit bloßem Auge nicht zu erkennen. Das Bild könnte in der Tat ein Küchenschürzenmuster vorstellen, wäre da nicht der Kontext aus Virus, Anschlag und Tod.
Terroristen wissen das, und sie haben sich in den vergangenen Wochen der Macht der Bilder bedient, als wäre das Fernsehen, das wichtigste Medium der westlichen Welt, eine weitere Waffe aus ihrem Arsenal. Das Fernsehen übertrug ihre Handlungen weltweit in Echtzeit. Allein dadurch richteten sich die Terrorattacken nicht nur gegen die Gebäude und die Menschen, die sich darin aufhielten. Sie richteten sich gegen das Bewusstsein der Leute, die eben nicht in diesen Hochhäusern waren, und sie erschütterten es nachhaltig.
Es ist ein absurder Kreis, der sich da auftut. Denn: Solange es das Fernsehen gibt, werden sich Terroristen dieses Mediums bedienen. Und solange Terroristen Anschläge verüben, wird das Fernsehen sie auch übertragen.
Wenn jemand in Echtzeit Nachrichten sendet, ist das etwas anderes als eine Nachrichtensendung. Der Zuschauer beobachtet vielmehr das Sammeln von Informationen. Man teilt ihm Neuigkeiten mit, ebenso wie Vermutungen. Das ist der Vorteil von Fernsehen: die Schnelligkeit. Doch der Kontext fehlt. Informationen ohne Zusammenhang sind am Ende wie die vielen Sprachen in Babel – sie verwirren die Menschen. Sie lähmen die Gesellschaft. Für viele Leute ergeben die einzelnen Bilder kein logisches Gesamtes mehr. Sie stehen vor einer hermeneutischen Aufgabe, die sie nicht mehr bewältigen können. Nicht, weil sie zu blöd dafür wären, sondern weil es zu viele Unbekannte in der Gleichung gibt. So basteln sich viele aufgrund eigener Vermutungen eigene Theorien zusammen. Ari Fleischer hätte fordern sollen: „Lest mehr Zeitung“, denn die Printmedien, ob man sie mag oder nicht, stellen aufgrund ihrer zweidimensionalen Form einen Kontext her. Und man kann sie umblättern, wann man will. Der Leser bestimmt das Tempo, in welchem er Neues lernt, nicht der Fernsehredakteur, der die Beiträge schneidet.
Vor etwa zehn Tagen sahen die Leute ein anderes, ebenso unscharfes Muster im Fernsehgerät. Grüne, graue und weiße Pixel in einem Quadrat. In einer Bildunterzeile las man Sätze, neben dem Bild stand ein Moderator und sprach. Durch den Kontext aus Mensch und Wort konnte man die Pixel dekodieren: helle Pixel – eine Rakete? Dunkle Pixel – eine Stadt, ein Land, ein Fluss. Man musste vermuten, dass es sich bei dem Grüngrauen um Afghanistan handelte.
Das Gegenteil einer Nachricht ist die Ahnung. So undurchsichtig wie Nebel, so uneindeutig wie ein Gödel-Theorem: ein unentscheidbarer Satz, von dem niemand sagen kann, ob er wahr ist oder falsch. „Dieser Satz ist unbeweisbar“, ist ein Gödel-Theorem, denn: Ist der Satz falsch, müsste man ihn beweisen können, das ergibt einen Widerspruch. Ist er wahr, kann man ihn nicht beweisen, auch dies ist ein Widerspruch. Füttert man etwa
ein Gödel-Theorem in einen Computer und fragt ihn, ob der Satz stimmt, so bleibt dieser in einer Schleife stecken. Mathematiker sagen, genau das unterscheide den Menschen von der Maschine: Der Mensch könne unlösbare Probleme erkennen, und ließe sich dennoch nicht von ihnen lähmen. Sagen sie.
Das Spekulative bricht los, wenn man sich Fragen stellt, die man nicht beantworten kann. Seit dem 11. September haben sich viele Menschen, die einen E-Mail-Anschluss besitzen, deswegen in „Einmannradiostationen“ verwandelt. Meldungen wurden weitergeleitet, Richtigstellungen und Dementis, unzählige Petitionen und gefälschte Fotos vom Unglücksort spuken noch immer im Netz herum wie Wiedergänger.
„Im Kriege ist die Wahrheit so kostbar, dass sie immer von einer Leibwache von Lügen umgeben sein sollte“, soll Winston Churchill einmal gesagt haben. Wäre er heute noch am Leben, würde er vermutlich empfehlen, die Wahrheit stets von einer Leibwache von Fernsehmoderatoren zu umgeben.
Ein Mitarbeiter des britischen Außenministeriums meinte am vergangenen Wochenende in London allerdings: „Würde Tony Blair bei jeder Pressekonferenz erzählen, was er neulich beim Frühstück in Kairo gehört hat, man würde ihm sowieso nicht glauben.“
Sieben Monate vor dem Anschlag der Terroristen erschien ein vielfach zitierter Zeitungsartikel, der besagte, dass bin Laden und seine Organisation geheime Botschaften in Pornobildern versteckt haben. Diese Technik heißt Steganographie. Eine verschlüsselte Botschaft wird in einem Bild oder einem Musikstück versteckt, indem man nur kleine Änderungen an dem Gesamtcode vornimmt. Für den ahnungslosen Betrachter sind diese Botschaften unsichtbar. Versteckte Codes werden nun in jedem Video, jeder Geste vermutet. Einmal, so erzählte ein Steganographie- Fachmann im englischen Fernsehen, soll ein amerikanischer General in Gefangenschaft mit seinen Augen im Morsecode das Wort „Torture“ in die Kamera geblinzelt haben. Auch Osama bin Laden soll seine Absichten über Bildsignale andeuten: Vor dem Angriff auf die USS Cole im Hafen von Aden trug er in einer Videoaufnahme einen jemenitischen Dolch. Und in seiner jüngsten Videobotschaft erschien er in einer amerikanischen Armeejacke. Mit solchen Anekdoten fesselt man den Zuschauer, doch man verwirrt ihn im Grunde nur noch mehr. Wie tief muss man schauen, damit sich die wahre Bedeutung eines Bildes erschließt?
Der Künstler René Magritte hat sich einmal Gedanken über dieses Problem gemacht und malte ein Bild mit zwei Pfeifen, bei dem unter der einen Pfeife stand: „Dies ist keine Pfeife.“ Er wollte damit den Sinnzusammenhang von Bild und Realität zerstören, den Leute klarmachen, dass kein Bild der Realität so real ist wie das Objekt.
Wer dringend nach etwas sucht, muss sich vorsehen. In dem Film „Zeichen. Pi“ sucht ein Wissenschaftler nach einem Muster in der Mathematik und in der Natur. Sein Lehrer warnt ihn wiederholt: „Wenn du nach einem Muster suchst, dann findest du auch eins, überall!“ Der Wissenschaftler wird am Ende wahnsinnig, da er es überall zu sehen glaubt – eine Zahl mit 216 Stellen.
Die Frage ist nun also nicht mehr, was wahr ist und was falsch. Die Frage ist: Wenn die Realität etwas anderes ist als das Bild, wonach soll man suchen?
AREZU WEITHOLZ