Strom, postlagernd

erschienen 2001 in der Süddeutschen Zeitung: Am Eingang hängen rosafarbene Nachthemden. Mit Rüschen. Das Stück sechs Pfund. Daneben weiße Frotteeshirts. Die Warteschlange im Postamt an der Stroud Green Road bewegt sich heute besonders zäh. Nur einer der beiden Schalter ist geöffnet. Und man selber rückt langsam auf, jetzt auf Höhe der braunen Jogginghosen.

In London ist es nichts Ungewöhnliches, wenn Postämter in Läden untergebracht sind. Manche verkaufen Kinderspielzeug. In „Marlene’s Wholesale&Retail“, im Norden von London, gibt es Klamotten. Wer hier zum Postamt geht, tut das aus denselben Gründen wie die Leute in Hamburg, Paris oder anderswo. Bei „Marlene’s“ aber kommen die meisten, weil sie Strom kaufen wollen. Und alle halten einen kleinen blauen Schlüssel in der Hand.

Das Einzugsgebiet der Stromfirma „Eastern Electricity“ reicht weit. Von Stamford Hill, dem jüdisch orthodoxen Arbeiterviertel über Finsbury Park bis weit hinauf in den Norden, nach Tottenham und allem, was dahinter liegt. Weit reicht London, sehr weit. Deswegen weiß keiner so genau, wie viele Leute hier eigentlich wohnen, manche sagen 12 Millionen. Und der Grund, warum heute bei „Marlene’s“ schon wieder so viele ihren Strom kaufen müssen, ist derselbe: In London gibt es keine Meldepflicht. Deswegen ist ein Mieter, der seine Rechnung nicht bezahlt, schwer zu finden. Die Hauseigentümer, haben deswegen separate Zähler installieren lassen. Die billigsten Wohnungen sind in den Außenbezirken zu finden. Kommt man etwa als Sprachschüler oder Student nach London, um etwas Bezahlbares zu mieten, so landet man dort. Es sei denn, man hat Geld. Viel Geld: Eine 40-Quadratmeterwohnung kostet an die 150 Pfund pro Woche.

Es geht weiter. Jetzt steht man neben violetten Nickihemdchen, die Babykleider sind in Sicht. Heute im Angebot: Paisley-Herren-Pyjamas. Das Stück zwölf Pfund 99. Hundert Prozent Acryl. Vielleicht besser doch nicht. „Was wünschen Sie?“ fragt der freundliche Herr hinter dem Schalter. „Einmal Strom bitte, für zehn Pfund.“ Der Herr lächelt. Das ist viel Geld. Die meisten kaufen immer nur für zwei Pfund. Oder für fünf. So eine zehn-Pfund-Ladung, die man in den hausinternen Zählerkasten steckt, reicht für einen ganzen Monat, vorausgesetzt man hockt täglich zehn Stunden am Computer, macht drei Mal große Wäsche und hört andauernd Musik. Zumutbar. Wer spart, kommt ein Vierteljahr damit aus.

Was nervt, ist die Anreise. „Marlene’s“ ist innerhalb eines Radius von fünf Kilometern die einzige Niederlassung für „Eastern Electricity“ Kunden. Und auch, wenn es einem der freundliche Vermieter eindringlich erklärt hat, die meisten Zugereisten erleben am Anfang das plötzliche Zappenduster. Nichts geht dann mehr. Der Strom ist alle. Ohne Vorwarnung. Um also herauszufinden, wie viel Strom einem noch bleibt, muss man im Keller gucken gehen. Gewöhnungsbedürftig.

Der Herr hinter dem Schalter dreht sich nun um und schiebt das blaue Plastik in einen weißen Kasten. „Hier, bitteschön.“ Und die Quittung. Beim Rausgehen wirft man noch einen schnellen Blick auf die Bikinis. Alle Übergrößen. Schade. Nächsten Monat. Vielleicht.

AREZU WEITHOLZ