erschienen in der FAZ, 2006: Wovon leben eigentlich deutsche Musiker?
Jeder kriegt bei viel zuwenig irgendwann zuviel. Das war 1975 genauso wie heute. Die Schmalzbrote konnten also nichts dafür. Auch nicht der alte Hanomag, in den die Band ihre Ausrüstung wuchtete, schon gar nicht die vier Stockwerke, die sie jene berühmte „Schrottanlage“ dann hochschleppten. Als die Band „Ton Steine Scherben“ im Jahr 1975 für dreihundert Mark Gage ein Solidaritätskonzert in Berlin spielen sollte, hatten die Musiker den ganzen Tag über noch nichts gegessen. Höflich hatte Sänger Rio Reiser um eine Stulle gebeten. Die Frau hinter dem Tresen forderte aber auch von ihm den „Solidaritätspreis“. Reiser drehte durch, und die Platte mit den Schmalzbroten flog durch die Gegend.
In Sachen Popmusik ist Deutschland heute, dreißig Jahre später, noch genau so am Ende wie 1975. Zwar geht es um immer mehr Geld, doch kommt es trotzdem zu einer gefährlichen Verflachung in jeglicher Hinsicht: Qualität, Haltung, Nachhaltigkeit. Ein neuer Geist muß her, zu spüren ist er schon, absurderweise in der Berufsgruppe, die am wenigsten davon hat: Die Künstler selbst zerren gerade den von CD-Brennen und Profitgier zerbeulten Popindustriekarren aus dem Dreck.
Die französische Band „Hush Puppies“ fuhr vergangene Woche fünfzehn Stunden für ein Konzert nach Deutschland, spielte dort, baute wieder ab und fuhr noch in der gleichen Nacht fünfzehn Stunden wieder zurück. Das ist ihr Alltag, und er war schon immer so, auch jetzt, nachdem sie mit „You’re Gonna Say Yeah“ einen Hit haben. Der Sänger ist Biologe und arbeitet in einem Labor in Paris. Der Schlagzeuger hat einen Plattenladen in Paris. Keyboarder und Bassist produzieren nebenbei Werbemusik. Und der Gitarrist arbeitet in einer Werbeagentur. „In England ist es üblich, daß Künstler manchmal sogar dafür bezahlen, um auftreten zu dürfen“, sagt Ben Hamilton, dessen wunderschönes Debütalbum gerade vom Sender Radio 1 zum Album der Woche gewählt wurde. Hamilton, nebenbei, arbeitet halbtags beim Klingeltonvertreiber Jamba.
Axel Kroell ist Musikproduzent und arbeitete früher in New York mit Leuten wie „Wet Wet Wet“ und Quincy Jones; er komponierte Musik für Hollywood und verkaufte zwanzig Millionen Platten. Heute lebt er in München. Vor kurzem hat er aufgehört, Popmusik zu produzieren. „Ich sehe es nicht mehr ein, Produkte zu erschaffen, die am Ende keine Chance haben“, sagt er. „Was heute dreitausend Stück verkauft, hätte früher dreißigtausend umgesetzt. Mit diesen Zahlen kann man aber auf Dauer keine Band aufbauen.“
Kroell ist nicht verbittert, er ist Realist. Bei einer seiner letzten Produktionen, dem Debütalbum einer deutschen Band, kam er auf einen Stundenlohn von 2,73 Euro. Viele Spitzenproduzenten, die keine Firma hinter sich haben, verschwinden vom Markt. Was machen die? „Keine Ahnung. Einen kenne ich, der ist jetzt Hausvermieter, der zweite ist Tontechniker im Eventbereich, da ist noch viel los.“ In der deutschen Popbranche, sagt Kroell, wird es bald so weit sein, daß man das Geld gleich mitbringen muß, wenn man etwas veröffentlichen will. „Hier ändert sich erst etwas, wenn mehr Teile aus der Verwertungskette zu den Urhebern zurückfließen.“
Doch diese sogenannte Wertschöpfungskette ist gar keine Kette. Sie ist ein mehrdimensionales Netz, ein dichtes Geflecht aus Verträgen und Rechten, GEMA-Verteilungsplänen, Händlerabgabepreisen, Retourenprozenten und Radiojahresminutenwerten und ungefähr noch hundert anderen Faktoren, die dazu beitragen können, daß ein Urheber entweder sehr wohlhabend wird oder Kopfschmerzen bekommt wie ein Buchhalter.
Leben von Nebenjobs
In Deutschland können sich selbständige Künstler und Publizisten bei der Künstlersozialkasse für ihre Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung versichern lassen. Anfang 2006 waren dort etwa 40.000 Musiker gemeldet. Deren Durchschnittseinkommen beträgt 788 Euro im Monat. Das ist nichts Neues. 1994 waren es umgerechnet 701 Euro. Wirklich besser ging es ihnen also noch nie. Die meisten Künstler überleben durch Nebenjobs. Oder sie leben vom Familieneinkommen. Mit ihren Konzerten verdienen viele Bands in den ersten Jahren nicht mehr als sechshundert Euro netto pro Jahr.
Von ihren Alben verkaufen sie nicht mehr als zweitausend Stück. Und die meisten behalten nach Abzug aller Kosten als reinen Ertrag pro Album nicht mehr als tausend Euro: ein Gewinn, den sie dann versteuern, durch die Zahl der Bandmitglieder teilen, von dem sie Instrumente kaufen, den Tourbus volltanken und ein Jahr lang leben müssen – theoretisch.
„Im besten Fall kennen alle deinen Namen, aber es wirkt sich nicht auf deinem Konto aus“, sagt Mona Rübsamen, Geschäftsführerin des Senders Motor FM, der bald auch versucht, mit Fernsehen eine neue Plattform für Independentkünstler zu schaffen.
Anders ist es bei der deutschen Rockband „Slut“. Die sind bei einer großen Firma unter Vertrag und könnten von ihrer Musik leben, gerade eben so, aber das wollen sie gar nicht. Sänger Chris Neuburger arbeitet als Architekt in München. Sein Bruder führt einen Fahrradladen in Ingolstadt. Rainer Schaller ist Fahrzeugtechniker, Gerd Rosenacker Journalist und René Arbeithuber Graphiker. Ihre letzte Platte verkaufte 35.000 Stück, die davor 30.000. „Für mich muß Musik aus Not und Notwendigkeit entstehen und nicht als Geschäftsgrundlage. Musik ist eine Kunstdisziplin, die ihren Weg von unten nach oben antreten muß. Sonst ist sie nicht glaubwürdig“, sagt Neubauer, dem Lieder einfallen, wenn er Häuser zeichnet.
Mitte der Neunziger verkaufte eine Nummer-eins-Single in Deutschland am Tag 15.000 Einheiten. Heute schafft sie das vielleicht in einer Woche. Oder in vier. Mit Glück. Dennoch zahlen große Plattenfirmen noch immer hohe Vorschüsse. Die Band „Mia“ wurde für eine sechsstellige Summe – damals noch D-Mark – eingekauft. Konzerne kalkulieren nach dem Prinzip: „Wir nehmen zehn Künstler unter Vertrag, acht floppen, einer verkauft mittelmäßig, und einer geht durch die Decke.“
Deswegen stehen am Ende in der Buchhaltung oft Zahlen, bei denen jedem noch so nüchternen Punkrocker schwindelig wird. „Wenn eine Plattenfirma einen Vorschuß von 150.000 Euro zahlt und noch mal soviel in Marketing investiert, muß der Künstler wenigstens 75.000 Platten verkaufen, damit die Plattenfirma dran verdient und dann auch Lust hat, ein zweites Album zu veröffentlichen. Und noch mehr müssen verkauft werden, wenn der Künstler etwas von seiner Lizenzausschüttung sehen möchte“, sagt der Geschäftsführer eines Musikkonzerns, der ungenannt bleiben will. Das Gute an der schlechten Nachricht: Künstler können sich notfalls einen Nebenjob suchen. Plattenfirmen können das nicht. Deswegen versuchen sie jetzt, an anderen Orten mitzuverdienen.
Die Branche besinnt sich in dieser Situation auf alternative Vertragsmodelle, die nicht immer neu sind. Künstler etwa bekommen einen Plattenvertrag, sollen aber gleichzeitig ihre Verlagsrechte zu den Verlagseditionen ihrer Firma abgeben. Das heißt, sie beteiligen diesen Verlag mit vierzig Prozent an ihren Einnahmen aus dem Urheberrecht. Lebenslang. Das haben Beggars Banquet und Mute Records immer schon so gemacht, und es ist auch sinnvoll, wenn dadurch ein weiterer Vorschuß in die Taschen der Künstler wandert. Genau das aber passiert nicht immer. Und wieder sehr modern sind die berüchtigten „Fifty-fifty-Deals“, bei denen der Gewinn brüderlich zwischen Band und Plattenfirma geteilt wird. Das mag ungemein fair klingen, ist es aber nicht. „Der Künstler wird auch am finanziellen Risiko beteiligt, er trägt die Hälfte der Kosten, etwa für CD-Muster, Porto, Plakate, Telefon oder für Flüge der Geschäftsführer nach sonstwohin“, sagt der Musik- und Enterntainmentanwalt Peter F. Schulz. „Am Ende verkauft der Independentkünstler sensationelle 15.000 Platten und sieht trotzdem kein Geld.“
Die Frage ist nun: Wer unterschreibt das? Die Antwort: zu viele, wenigstens in Deutschland. Man stelle sich einmal vor, VW würde solche Verträge mit seinen Angestellten machen und denen irgendwann sagen: „Wir hatten ein schlechtes Jahr, wir verrechnen dein Gehalt mal gegen die achthunderttausend Miesen deiner Fabrik.“ Das Grundproblem der deutschen Industrie sieht Schulz daher nicht nur im Brennen von CDs, sondern im Dilettantismus der Macher. „In den Vereinigten Staaten und in England haben die Manager, Geschäftsführer und Produzenten Jura studiert oder BWL mit Schwerpunkt Entertainmentbusiness. Hier denken viele, nur weil sie mal Gitarre gelernt haben, können sie eine Band managen.“
Tatsache ist: Der Unterschied zwischen Madonna und „Mia“ ist, ökonomisch gesehen, neben der schieren Firmengröße die Gesellschaftsform. Madonna ist ein Konzern. „Mia“ ein mittelständisches Unternehmen. Und etwa neunzig Prozent aller deutschen Independentbands und -künstler sind im Grunde nichts weiter als Kleinbetriebe, deren Geschäftsführer die Insolvenz leidenschaftlich verschleppen – manche tun das schon seit mehr als zehn Jahren. In den Knast wandern sie nicht. Sie überleben, irgendwie.
Ein gesundes Beispiel ist die Band „Quadro Nuevo“, die sich seit Jahren der Industrie verweigert. Was sie können, machen sie selber. Booking, Design, Produktion; sie spielen zweihundert Konzerte und verkaufen 50.000 Platten im Jahr. Wenn man seine Tonträger selbst preßt, versechsfacht sich der Gewinn. Das geht aber nur, wenn einen die Leute kennen. Und die Leute kennen einen nur, wenn man viel tourt. Und viele Bands können sich das nur dann langfristig leisten, wenn sie sich außerhalb der Industrie finanzieren. Was sie tun.
„Wenn mir einer sagt, meine Musik sei nichts wert, weil ich nebenher arbeite, dann ist das die Arroganz von Wohlstandskindern. Ich arbeite, weil ich muß“, sagt Ben Osborn, Sänger der Band „Neonman“, nebenher Art-director und Vater von zwei Kindern. „Ich will keine Last für unser Management sein, ich will keine Last für meine Plattenfirma sein. Ich will nicht jeden Morgen da anrufen und fragen, ob Geld da ist oder ob Geld reinkommt. Ich arbeite, um die Freiheit zu haben, mit meiner Musik auch weiterhin das zu tun, was ich tun will.“
Der Arbeitsplatz eines Plattenfirmenangestellten, der schuftet, weil er an „seine“ Band glaubt, ist nicht weniger wert als der Seelenfrieden eines Künstlers, doch trotzdem stellt niemand die Frage, wie sich in Deutschland die Marktwirtschaft mit dem Rock ’n‘ Roll vertragen soll. Und zwar ganz konkret am individuellen Arbeitsplatz. Ob man nun einen Aktenordner oder eine Gitarre in der Hand hält, ist dabei egal. Die Welt braucht Popmusik so nötig wie ein Loch im Kopf. Musik ist kein Grundnahrungsmittel. Was die Welt braucht, hat Rio Reiser schon im Jahr 1971 gefordert: „Uns fehlt nicht die Hoffnung, uns fehlt nicht der Mut. Uns fehlt nicht die Kraft, uns fehlt nicht die Wut…Alles, was uns fehlt, ist die Solidarität.“ Eine Handvoll Musiker leben sie gerade wieder vor.
AREZU WEITHOLZ