Leseprobe
Am Ende geht es um den Moment. Wie das Mondlicht durch die Ritze der Jalousie auf den Parkettfussboden fällt. Wie das Auto unten vorbeifährt. Wie still es wieder wird. Du atmest. Ich sitze an deinem Bett. Ich trage die Farbe, die dir an mir so gut gefällt, das mittelgraue Anthrazit.
Ich könnte Musik anmachen, ich könnte gehen. Meinen Mantel anziehen, raus, nach Hause, ein paar Stunden nicht an dich denken, einschlafen und dann morgen anrufen und sehen, ob du die Kurve bekommen hast. Auch jetzt wäre es nur ein Telefonat – du musst es nur sagen, dann rufe ich ei-nen Notarzt. Aber darüber haben wir nie gesprochen. Notfälle kamen in deiner Welt nie vor.
Die Lichtstreifen auf dem Boden sehen aus wie leere Notenblätter. In der Küche summt der Kühlschrank. Über deinem Bett hängt das Bild von Arvo Pärt, in seiner Musik ist es auch oft so leise und aufgeräumt wie hier. Einmal hab ich dich erwischt, wie du auf einem Fensterputztuch im Wohn- zimmer herumgerutscht bist, um den gewischten Boden nicht wieder schmutzig zu machen. Du hast niedlich ausgesehen, wie eine kreuzlahme Ente. Und ich musste an Mama denken, von der ich dir nie erzählt habe. Sie hatte früher vom vielen Marmorfußbodenpolieren kleine Hornknubbel an den Knien, die man durch ihre Nylons sah.
Ich könnte dir von den Haldol-Patienten erzählen, die wie Zombies durch schmuddelige Aufenthaltsräume schlurften, in denen immer der Fernseher lief – ohne Ton. Ich könnte dir vom Neonlicht erzählen. Vom Staub auf den Büchern und den lila Veilchen in den Beeten im Park vor der Klinik. Von Mamas leerem Gesicht. Von ihrem geblümten Nachthemd. Sie war mit dicken, grauen Schlaufen ans Bett gebunden. Eine Geschlossene käme für dich nicht in Frage. Das würdest du mir nie verzeihen. Du würdest wahnsinnig werden.
Mama hat die Sache mit Papa nicht verkraftet, und die Sache mit Papa habe ich dir nie erzählt, weil es dich immer so aufgeregt hat, wenn etwas nicht perfekt war, nicht fröhlich, nicht heiter oder leicht. Deine Stirn glänzt, deine Hand ist klamm. Ich zähle die Schläge unter deiner Haut. Eins, zwei, drei. Leider weiß ich nicht, wie man den Puls misst.
Ich bekomme Angst, wenn einer was fühlt, hast du einmal gesagt. Und doch waren sie immer hier, die Gefühle, wie herrenlose Hunde sind sie uns nachgelaufen, aber du sagtest: Man muss sachlich sein, sonst ist man wie ein Tier. Traurig sahst du aus, als du meintest, du bräuchtest deine Befrei- ungsschläge, so nennst du es, wenn du jemandem etwas Gemeines sagst. Zum Teufel mit deiner Bildung. Zur Hölle mit deinem Heraklit! Krieg ist der Vater aller Dinge?
Du liegst hier und atmest. Das ist Kämpfen? In deiner Welt kämpfen die Leute um Anerkennung, um Positionen, um Macht. Deine Waffen sind dein Verstand und die Schwächen der anderen. Das ist kein Kämpfen, das ist ein Kindergarten. Kämpfen ist etwas anderes. Es ist etwas Leises. Es gibt da eine Frau, sie leidet seit Jahren unter Depressionen. Jeden Morgen, wenn sie aufsteht, spürt sie ein Gewicht, das man nicht wiegen kann, denn es ist unsichtbar. Jede wache Sekunde versucht sie, an etwas nicht zu denken, weil man es nicht denken kann. Sie lebt mit Knochenschmerzen und mit einem dichten Nebel, der sich über ihre Gedanken legt, und die meiste Zeit ist sie allein. Sie wartet. Darauf, dass sich etwas ändert, dass etwas geschieht, vielleicht sogar darauf, dass sie stirbt, aber sie bringt sich nicht um. Sie bleibt am Leben, wenngleich es ihr nichts mehr bedeutet. Hast du solche Depressionen? Weißt Du überhaupt wie schwer das ist, wenn man wirklich kämpfen muss? Gegen alles? Für nichts?
Für dich war heute morgen doch alles in Ordnung. Du hattest dich angezogen, die Sonne schien, wir saßen beim Frühstück. Dein Gehirn muss etwas gedacht haben, es ist zu einem Ergebnis gekommen, und das hast du mir mitgeteilt: Aus. Du warst freundlich. Ich hatte sogar das Gefühl, es machte dir gute Laune, dieses »Aus«. Und dann? Wie ging es für dich weiter? Hat dich dein Scheißheraklit am Ende in dieses Bett gebracht? Wieso? Oder tobt jetzt doch ein Krieg in dir, und nur ich bekomme ihn nicht mit, weil mir der Einblick fehlt, weil ich ein bestimmtes Buch nicht gelesen oder falsch verstanden habe. Weil ich dich falsch verstanden habe? Weil ich nicht sachlich bin? Aber du bist doch derjenige, der jetzt nicht bei sich ist. Fast ohnmächtig. Nur noch da. Sag mir: Was ist man, wenn man nur noch da ist? Am Ende? Gelangweilt? Oder ist das hier etwa ironisch gemeint? Ein Notarzt wäre jetzt das Sachlichste, was dir passieren könnte. Er würde Blutdruck messen, deinen Magen auspumpen, eine Infusion setzen, und wenn du Pech hast, weist er dich ins nächste Landeskrankenhaus ein. Auf A folgt B folgt C. Hast du das nicht zu Ende gedacht? Oder wolltest du nur endlich auch mal wissen, wie das ist, wenn man sich fallenlässt? Mann, Ludwig. Du wolltest ihn immer vermeiden, den Moment der größtmöglichen Schwäche, und jetzt ist er da. Wenn du dich sehen könntest! Wie verletzlich du aussiehst, und wie schön. Deine Büchertürme bewachen dich. Draußen bellt ein Hund. Und du? Atmest
Alles muss groß sein, weil wir klein sind, hast du gesagt, und dann haben wir deine Musik gehört. Deine Popmusik, über die du nicht müde wirst, große Worte zu verlieren. Die die Leute dann lesen und nicht verstehen, aber denken, wie schlau der doch ist. Aber die Erlösung ist keine Endlos- schleife in einem Technolied. Hörst du nicht, was das im Grunde ist? Es sind gebrochene Akkorde.
Warst du jemals auf einem Rave, ich meine nicht in der VIP-Lounge, wo deine Freunde mit den richtigen Turnschuhen stehen. Ich meine ein Fest, bei dem man irgendwann morgens um vier merkt, dass man die ganze Zeit im Matsch getanzt hat. Dass man seit Stunden nicht mehr auf die Uhr geguckt hat. Dass man aussieht, wie jemand, der vergessen hat, wie er aussieht. Ein Rave, bei dem man die Sonne aufgehen sieht – ohne Sonnenbrille. Du tanzt nicht. Du stehst daneben und verschränkst deine Arme, und ab und zu nickst du anerkennend mit dem Kopf. Nein, Musik muss kein Techno sein, das sage ich nicht, ich sage nur: Den gleichen Sonnenaufgang kann ein Orchester in dir anrichten, oder ein Mann, der auf der Straße singt. Aber das ist dir zu banal, zu kitschig, zu dumm. Du gehst auf Parties, weil man dich einlädt. Besuchst Konzerte, weil du eine Karte ge-schenkt bekommst. Gehst niemals irgendwohin, wo es nicht besonders ist. Lässt alles aus, worüber man hinterher nicht sprechen kann. An guten Tagen ist die Realität wie ein Kapitel aus einem Roman, den du schreibst. Du hast sie in der Hand: die Figuren, die Schauplätze, was die Leute sagen, was sie denken, und vor allem, was es zu bedeuten hat. Eine Katastrophe ist eine Frage der Dramaturgie, und ein Happy End ist was für Doofe. Abends sitzt du in Restaurants, verachtest die Leute, die sich mit dir unterhalten wollen und schweigst – deine Klamotte ist das Statement, und wer das nicht kapiert, ist selber schuld. Wo sind sie jetzt, deine schicken Schuhe, deine Hemden? Ist das hier etwa das Schlusskapitel? Ich dachte du verachtest Dramen. Wolltest du nicht alle Theater in die Luft sprengen und die Schauspieler und Regisseure gleich mit? Es ist niemand hier, der mitspielt außer dir. Selbst deine Idole helfen dir jetzt nicht. Dein Foucault, dein Deleuze, dein Bernhard – die Büchertürme schweigen. Keiner schreibt, keiner denkt, nur dein Herz schlägt. Und ich bin ein undankbares Publikum. Kannst du mich überhaupt hören?
Dir wird schlecht, wenn du ein Liebeslied von den Stones hörst. Und wenn man dir von Leuten wie Brian Jones erzählt, von den Drogen, von ihrem Rock and Roll Circus, dann läufst du aufs Klo und kotzt. Du bist mit Absicht taub. Du lässt nicht viel rein, nur etwas raus. Aber für deinen Popdiskurs brauchst du mehr als ein Morsezeichen, du brauchst Mitwisser. Du brauchst Eingeschworene und Ausgegrenzte, natürlich muss das so sein, wo kämen wir auch hin, wenn alle mitmachen könnten, wir sind ja nicht bei den Hippies, die so weich sind, so milde und so widerlich nett. Aber dein Gerede über Pop gehorcht den gleichen Regeln wie das Geschwafel der Hippies oder das Getratsche auf dem Land. So wie im Dorf Bauer Tegtmeier und Schlachter Becker über das Auto vom Nachbarn oder die letzte Ernte reden, besprichst du mit deinen Auserwählten, was Tracy Emin gestern im Fischereihafen anhatte, und wer was wann in der Zeitung geschrieben hat. Die Leute hören dir dann zu, finden sich wieder in deinen Texten, auch wenn sie die vielen Fremdworte nicht verstehen, und alle fühlen sich zu Hause in den Filmen, in denen die Leute einsam sind: ratlos, sprachlos und immer umgeben von Krach und Stadt und Gestank.
Und genau so wie sich in jeder Gruppe immer ein paar Leute für was Besseres halten, weil sie meinen, sie wären hellsichtig oder besonders anständig, gibt es auch in deinem Zirkus eine Hackordnung. Du stehst oben. Auf die anderen siehst du herab. Sie sind das Fußvolk, das in Schallplatten- firmen arbeitet, bei Nachrichtenmagazinen, beim Fernsehen, im Marketing, irgendwo in den großen Ideen-Häckslern der Gegenwart. Sie halten den Laden am Laufen, aber sie sind nur Dienstleister, zu doof für eine Banklehre und zu faul für die Müllabfuhr, hast du gesagt. Die meisten können den Stift nicht halten, aber wollen was mit »Medien« machen. Sie haben die Neunziger um das Popkalb mit den tausend Mägen vertanzt und dabei viel verdient, nichts bewegt, nur wiederholt. Du sagtest, sie wären das Medienprekariat mit Ramones-T-Shirt, ohne Rentenversicherung – im Kern verhinderte Spießer. Warum? Was unterscheidet dich von ihnen? Bist du kein spießiger Dienstleister, wenn du deine Texte an eine Zeitung verkaufst? Bist du ein besserer Mensch als der Promoter, der einen Waschzettel verfasst, nur weil in deinen Texten etwas steht, was eine kleine, exklusive Gruppe so sehr achtet? Oder siehst du dich insgeheim als Künstler? Hast du deswegen deine Geschichten gefälscht? Aber nein, du fälschst ja nicht. Du »frisierst«, das ist ein Unterschied. Oder ist das Ganze nur eine Form von Protest? Gegen was denn? Du nennst es »draufhauen«. Das merke eh keiner, und selbst wenn, wäre es dir scheißegal, denn dafür gibt es Anwälte. Du gehst in Deckung und bist ein Jahr später wieder da, in besserer Stellung mit höherem Gehalt. Nun ist es aber rausgekommen. Und so ganz egal kann es dir nicht gewesen sein, oder ich verstehe hier etwas nicht richtig.
Ich erinnere mich an eine Nacht im Herbst, als du mich gefragt hast, ob ich für das ganz Große sterben würde. Ich lief neben dir her, wir spazierten an der Elbe entlang, du wie immer mit verschränkten Armen, ich wie immer schweigend neben dir. Ich habe eine Antwort. Nein, das würde ich nicht. Ich würde dafür leben.
Jung sterben. Was soll das überhaupt? Ist das die ganz große Geste? Gott, was für eine Inszenierung. Das ist auch nicht groß. Es ist eine Zeile aus einem Popsong, den schon Kurt Cobain missbraucht hat: »It’s better to burn out, than to fade away«. Künstler sterben nicht so wie Lieder klingen. Sie sterben an Kleinigkeiten, an Missgeschicken, am Alter, vor dem dir so graut. Weißt du, warum früher soviele bei Verkehrsunfällen draufgingen? Nicht, weil sie waghalsig Auto fuhren so wie James Dean. Es ist eine Frage der Statistik. Wer dauernd tourt, ist öfter unterwegs, damit steigt die Warscheinlichkeit eines Verkehrsunfalls. Einfach. Nicht groß. Was ist über- haupt groß? Das ganz Kleine hinkriegen ist schon schwer genug. Das muss man erstmal schaffen! So wie Little Jimmy Scott, den sie momentan alle verehren, selbst Madonna. Mit Fünfzehn war er berühmt, dann wurde er ein Leben lang von miesen Managern über den Tisch gezogen, er wurde vergessen, er verarmte, und jetzt haben sie ihn wiederentdeckt, aber eben auch nicht alle, nur Madonna und ein paar Jazzmagazine. Und was macht er? Krank und alt und schlechtbezahlt singt er noch immer in winzigen Clubs, die nur dann voll sind, wenn sich ein Promi über ihn äußert. Aber wie der singt! Man möchte meinen, er hat nie aufgehört zu leuchten. Wie kannst du mit deinen einunddreißig Jahren behaupten, »in Würde altern ist unmöglich«. Wie kannst du sagen, Alter sei Versagen?
Ich hätte dir gern einmal mein Archiv gezeigt. Ich habe so viel über Popstars und ihre Todesursachen gesammelt, und ich rede jetzt nicht von Elvis, Jimi Hendrix oder Bon Scott, ich meine alle, auch die in den Nischen, gerade die. Ich habe mir Filme und Bilder angesehen, ihre Lieder un- tersucht, ich wollte wissen: Kann man den Tod hören? Ist er ein unsichtbarer Ton, eine Farbe in der Stimme, so wie beim Blues? Etwas, das man nicht messen, nur fühlen kann? Lorca hat das duende genannt. Das duende, sagte er, ist etwas, das nicht hier ist und nicht dort, es wohnt in den Nervenbahnen, ist eine Ahnung, eine Art Dämon. Wer das duende besaß, war mit schwarzem Wasser getauft.
Little Jimmy Scott sang schon immer so. Aber warum? Wie konnte ein Dreizehnjähriger klingen, als wäre er bereits hundert Mal gestorben? Alle, die ihn früher bei Atlantic hörten, dachten, da singt eine alte, traurige Frau, und heute ist er selbst ein Opa, seine Züge sind filigran, sein Kopf so klein, er ist krank, aber du würdest sagen, er ist ein Verlierer.
Einmal lag ich neben einem Jazzmusiker auf dem Teppich. Ich musste da liegen, denn der Mann konnte nicht mehr stehen und auch nicht mehr sitzen und nur sehr leise flüstern. Er war um die Vierzig und in seinen Kreisen berühmt. Du kennst ihn nicht, er war nie cool. Der Teppich war graublau, und neben unseren Köpfen ragten die alten Beine eines dunklen Holztisches auf. Von draußen kam Straßenlärm, Sirenen in der Ferne, ständiges Brummen, New York. Wir sprachen über seine Musik. Ich fragte ihn, ob er sterben wollte. Warum?, fragte er. Warum nicht?, fragte ich zurück. Dann fing er an zu weinen.
Dein Leben ist eine Erfolgsgeschichte ohne Tränen. Oder nicht? Was weiß ich schon über dich? Ich weiß, dass du eine Schwester hast. Dass ihr im Stuttgarter Westen aufgewachsen seid, in einer Altbauwohnung mit vielen Büchern, die du alle bereits mit dreizehn gelesen hattest, mit Eltern, die sich nie stritten. Dass dein Vater in deinen Erzählungen nie vorkam. Ich weiß, dass du ihr erstes Kind warst. Schlau, aber allein. Dass du schon früh in deiner eigenen Welt lebtest. Dass deine Eltern heute stolz auf dich sind, weil du so jung promoviert hast, und dass dich das nicht wundert, weil sie eben so bürgerlich sind, diese Leute, so schrecklich bürgerlich und aufgeräumt, so dass du immer genau wissen würdest, was dich Weihnachten erwartet. Was noch? Du sammelst alte Uhren, am liebsten hast du die Oyster Perpetual, oder war es die Daytona? Dein Lieblingsbuch ist »Vater und Söhne« von Turgenjew, dein Lieblingsfilm »Stalker«, aber du hast dauernd Szenen aus »Heat« und »Fight Club« zitiert. Nachts, wenn du nicht schlafen konntest, hast du die Fenster geputzt. Du hast immer im Wohnzimmer damit angefangen. Reicht das aus, um dich zu beschreiben? Nein. Kleiner müssten die Kleinigkeiten sein. Viel kleiner. Vom Hähnchen hast du immer zuerst die Haut gegessen und nie die Brust, die war dir zu langweilig. Und wenn du nervös bist, wackeln deine Finger. Bist du das? Bestehst du aus Hähnchenhaut und wackeligen Fingern?
Die ganze Zeit hast du immer und immer wieder versucht mir zu erklären, wie ich das anstellen soll, das Gewinnen, das Starksein. Du hast gesagt, man darf nicht einknicken, man soll sich keine Blöße geben. Und jetzt liegst du vor mir, nur die Decke verhüllt deinen Körper. Wenn du die Augen öffnen würdest, könntest du mich sehen. Aber ich weiß ja noch nicht einmal, ob du mir zuhörst.
Vielleicht hattest du Recht, als du sagtest, ich sei von Anfang an eine tragische Figur gewesen. Jemand, der zum Großen nicht taugt, der immer nur in der zweiten Reihe sitzen wird. Meine Großeltern waren Bauern, das habe ich dir auch nie erzählt. Kein Urlaub. Keine Etagenheizung. Ein Zylin-derhut, ein goldenes Armband, ein leerer Ziegenstall. Bei uns gab es die Bildzeitung, nicht den Spiegel. Mein Opa war der einzige im Dorf, der auf die Oberschule hätte gehen können. Aber erst war Krieg, und dann war es zu spät. Er ist Hufschmied geworden, dann Elektriker. Wenn ich später in Länder gefahren bin, die er nur aus Büchern kannte, hat er in der Stube gesessen mit seinem Globus und hat geschaut, wo ich war und konnte nicht ahnen, dass ich auch von dort immer nur weg wollte. Weißt du wie das ist? Wenn man mit den schicken Leuten in New York in den Szene-Restaurants sitzt, und da ist, aber auch von dort wieder weg will, weil man da genau so wenig hingehört, wie in einen Vorlesungsaal mit lauter bekümmerten Studenten, oder in einen Londoner Privatclub oder auf laute Rockkonzerte, wo man vielleicht sein will, aber wieder weg muss, ins Krankenhaus, weil Oma da liegt, oder in die Irrenanstalt, weil Mama dort ist, und dann ins Dorf, weil Opa wartet und weint und nicht weiter weiß. Und dann muss man arbeiten, aber Mama wird entlassen, und man fährt wieder in ein Krankenhaus und kümmert sich, und es geht eine Weile gut, und dann klingelt das Telefon, mitten in einer Konferenz, und man lässt wieder alles stehen und liegen, weil sie schon wieder einen Zusammenbruch hatte, und zum ich-weiß-nicht-wievielten Mal fährt man dann dahin, dieses Mal in ein anderes Landeskrankenhaus, und man raucht zuviel und fährt zu schnell, und dann redet man mit den Ärzten und sitzt an einem Bett, und immer sind es Schlaufen, diese scheißgrauen Schlaufen in dem dunklen Mittelgrau, mit denen sie Patienten fixieren. Jedes Mal, wenn du mir gesagt hast, wie gut mir diese Farbe steht, musste ich an sie denken.
Bevor ich hierherzog bin ich durch die Welt geirrt wie ein verloren gegangenes Paket. Du fandest das amüsant. Ihr habt gedacht, ihr holt euch irgendeine Exotin. Eine Frau, die seltsamerweise gerade in Südafrika ist, in einem Land, das du nur aus Erzählungen deiner Modeassistentinnen kennst, weil sie da mal wen geshootet haben. Du hast angenommen, ich würde da sein, weil es so schön warm ist. Möglicherweise hast du auch gar nichts gedacht außer: »Cool. Die kommt nicht von hier.« Damals war ich zu Besuch dort, aber 1995 war ich dorthin ausgewandert, weil ich weg wollte, so weit weg wie es irgendwie ging. Je größer die Welt, umso leichter kann man sich in ihr verstecken, dachte ich. Ich wollte an den Tellerrand eines Kontinentes, wo mich vielleicht Anrufe erreichen würden aber keine Besuche. Und dann kamen sie alle. Die Golf spielen wollten. Wein trinken. Abfeiern. Die deutschen Bekannten. Und als die mir zu nahe kamen, habe ich mich in die Nächte geworfen, in die Parties und das Durcheinander. Aber wie viele Deutsche, die da lebten, machte mir die Fremdheit immer mehr aus. Ich brauchte das Land, aber das Land brauchte mich nicht. Und genau so wenig, wie man ein anderer Mensch wird, nur weil man Prada trägt und nicht mehr Deichmann, so wird man im Ausland auch kein Dableiber, wenn man vorher ein Wegläufer war. Es waren nie die Orte, die mich nicht wollten. Nie die Leute, die mich ablehnten. Ich konnte mich nicht haben, ich suchte eine Antwort, die es nicht gibt. Deswegen habe ich dir nie von mir erzählt. Du hasst Geschichten, die keinen Sinn ergeben.
Du schreibst, wenn du nicht fernsiehst. Du schreibst sogar Bücher, und wenn du das nicht tust, bist du im Büro, und wenn du nicht im Büro bist, fährst du auf ein Event oder kaufst Uhren, und immer kennst du irgendwen, der da ist, der auf dich wartet, weil du eine Position hast, einen Namen. Nie würdest du etwas Ungeplantes tun. Wie kann es also sein, dass du heute Nacht so ein Risiko eingehst und in das unbekannteste Land der Welt auswandern willst. Ohne Vorbereitung, einfach so?
Ich war eine Weile fast süchtig danach: Risiken eingehen, einfach drauflos fahren und sehen, was passiert. Ich buchte einen Flug in ein Land, das ich nicht kannte. Ich ignorierte Leute, die mir was darüber erzählen wollten, und las keine Reiseführer. Wenn man die Angst zu Hause lässt, kann man das machen. Ansonsten kommt sie mit. Die Angst, dass man verloren geht, dass was kaputt geht, dass es regnet, man sich den Magen verdirbt, die Elefanten zu klein und die Spinnen zu groß ausfallen. Solche Leute müssen vorher planen und Versicherungen abschließen, und die kriegen dann den reparierten Mietwagen, nicht die billige Krücke mit dem angeklebten Auspuff. Sie fahren nicht mit wildfremden Leuten im Cabrio mit, schlafen nicht bei bekifften Kulissenbauern auf dem Sofa ein, kaufen keine Drogen von schwarzen Typen, die auf dem Parkplatz herumlungern, und sie springen auch nicht ins Meer, weil es aussieht wie auf einer Postkarte, so wie ich. Ich sah diesen Strand, er war weiß wie in der Werbung. Menschenleer. Ich parkte mein Auto und stieg aus. Am Horizont sah ich Punkte, Delphine vielleicht. Ohne Nachzudenken zog ich mich aus, lief los, sprang ins Meer, doch dann drückte mich etwas nach unten, ich kam nicht mehr hoch, schwamm dagegen an, wurde sofort wieder vom Wasser hinuntergezogen. Ich wollte atmen, sah winzige Flecken Himmelblau, aber ich bekam keine Luft. Plötzlich, einfach so. Ich trat und ruderte mit den Armen, ich war aber nie länger als Sekundenbruchteile oben, und immer kam Wasser von überallher, in meinen Mund, in die Nase. Als wollte mich das Meer nicht hergeben, wurde ich umherge- wirbelt, noch nicht mal schnell, das alles geschah mit einer seelenruhigen Konzentration, als hätte die See alle Zeit der Welt, und ich wusste bald nicht mehr, wo oben und unten war, ich schluckte Salzwasser, und es war zum Totlachen, dachte ich, das ist Ertrinken? Ich wollte lachen, aber mir fehlte die Luft. Wenn mich jetzt einer sieht, wie ich mich anstelle, aber nein, mich sieht ja keiner, ich bin hier unter Wasser und ertrinke, dachte ich, und wollte wieder lachen, doch schon wurde ich wieder nach unten gedrückt. Dann tat es weh. Im Hals, in den Beinen, in der Brust. Ich dachte: Warum bin ich in dieses Scheißmeer gesprungen, warum bin ich überhaupt hierhergefahren, warum kann ich nicht Ferien machen wie die anderen, als Pärchen oder in einer Gruppe? Warum bin ich so ein Idiot, selber Schuld, vor allen Dingen selber Schuld, und in der gleichen Sekunde begriff mein Gehirn, dass es völlig sinnlos war, überhaupt etwas zu denken. Ich hörte mich rufen: »Hilfe«. Ich versuchte zu winken. Zwei Figuren blieben am Strand stehen und gingen weiter. Ich schluckte Wasser, wurde nach unten geschleudert, und dann kam ein Gedanke, er bestand aus zwei Worten: »Nicht auf- geben«. Sie wiederholten sich immer und immer wieder in meinem Kopf. »Nicht aufgeben«, »Nicht aufgeben« und »Nicht aufgeben«. Ich stemmte mich mit ausgebreiteten Armen gegen das Wasser, wenn es mich hinaus- und hinunterziehen wollte, und schob mich die Flut nach vorne, machte ich mich so schmal und lang wie möglich. Irgendwann spürte ich Sand unter meinen Füssen, dann wieder nicht, es dauerte eine halbe Ewigkeit bis ich ihn fassen konnte, und ich weiß noch, wie erstaunt ich war, denn der Strand war keine zehn Meter von mir weg.
Du würdest sagen: Wie lächerlich. Vielleicht würdest du dich auch aufregen und schimpfen, und was das für eine Geschichte sei, was man daraus lernen sollte, für so eine Blödheit müsste man sich schämen. Aber du kannst dich nicht aufregen, weil du da liegst und zuhören musst.
Ich schob mich an Land, kotzte Salzwasser, fiel in den heißen Sand, lag auf dem Rücken und atmete. Später habe ich mich gewundert. So etwas wie Überlebenswillen und Kampfesgeist kannte ich nur aus Büchern. Aber es ist wirklich so, wie sie sagen. Man will weiterleben. Etwas in einem will das, es überbrückt alle Synapsen, schließt das Bewusstsein kurz und brüllt: Nicht aufgeben. Bist du jetzt auch an diesem Punkt? Kämpfst du? Oder schläfst du nur?
Deine Wimpern zittern. Ich könnte deine Stirn küssen. Wir könnten »Lethal Weapon« gucken, uns fehlt noch der vierte Teil. Ich glaube, du hast auch noch Fanta und Hähnchen im Kühlschrank. Ich weiß noch, dass ich damals ins Auto stieg, um zurückzufahren, und im Radio lief gerade, als ich den Motor anließ, das Gitarrensolo von »Purple Rain«. An was für einen Quatsch man sich erinnert.
Es gibt da einen Spruch auf Setswana, der geht so: Moi- polai ga a llewe, und er bedeutet: Man weint nicht um den, der sich schadet. Ich habe etwas gebraucht, um zu kapieren, wie die das meinen. Einmal erzählte ein Bekannter beiläufig, sein Cousin wäre in Johannesburg erschossen worden. Er hatte bei einem Überfall in Downtown sein Auto nicht herausrücken wollen. Keiner regte sich auf. So etwas passierte eben dauernd. Damals dachte ich, die anderen hatten mir etwas voraus. Sie waren da aufgewachsen und hatten sich an den grotesken Widerspruch gewöhnt, in dem sich die gewaltige Schönheit zum willkürlichen Chaos befand, als läge über ihren Ohren und Augen Schorf, den man brauchte, wollte man nicht an jeder Ecke das Weinen anfangen. Wochen später wurden Eisdielen in die Luft gejagt, und auf der Promenade in Camps Bay fuhren Panzer. Was taten wir? Lagen am Strand und haben gekifft. Ich saß eine Nacht im Frauenknast. Na, und? Wir hatten eine letzte Party geplant und alle sag- ten: Jetzt erst Recht: einmal noch feiern, das ist deine Abschiedsparty, Anna. Wir hatten den kleinen Dancefloor am Rand des großen, die meisten tanzten bis in den frühen Morgen. Gegen acht Uhr morgens hörten wir Schreie. Ich lief hin. Ein Bekannter lag im Baggersee. Er hatte zuviel Ke- tamin drin, oder was weiß ich, jedenfalls muss er gedacht haben, der See wäre tiefer und war hineingesprungen. Sie zogen ihn raus. Keiner konnte Erste Hilfe, ein paar knieten neben ihm, er lag da wie tot, aber er lebte. Dann kam der Notarztwagen. Ein paar Partygäste machten kehrt und gingen zurück zum DJ. Als der Krankenwagen wegfuhr, tanzten sie wieder. Und wir? Ich war wie ausgeschaltet. Die anderen feierten weiter, dann war die Party vorbei. Wie mechanisch half ich beim Zusammenpacken. Die Jungs legten Lines, drehten Joints, rauchten noch einen zur Beruhigung, bevor sie sich ans Steuer setzten und losfuhren, so bedröhnt sie eben waren. Dumme Sache, das, hieß es hinterher.
Oder um es mit deinen Worten zu sagen: »Es ist alles eine Frage der Konsequenzen. Man muss sie kennen. Wer das nicht tut, ist ein Idiot.« Aber du, du bist doch kein Idiot, Ludwig. Vielleicht hat dein Gehirn eine Sekunde lang nicht funktioniert. Gab es etwa einen Kurzschluss? Dieses Wort wird so oft benutzt. Kurzschlussreaktion. Als besäße ein Mensch Sicherungen, die rausknallen können. Als wären wir Maschinen!
Nie wolltest du Drogengeschichten hören, dabei hast du selber Erfahrung damit. Tina und Julius haben dir Haschkekse untergejubelt, und als ich dir davon erzählte, bist du ausgerastet. Du hast geschrieen, was ich dir wieder antun würde mit meinen Drogengeschichten. Drogengeschichten! Das waren Haschkekse, ich bitte dich, Haschisch! Aber du warst außer dir. Wie ich dazu käme, mir von dieser Fotze was vorlügen zu lassen. Der Freundin deines besten Freundes, die sich dir an den Hals geworfen hat, als sie bereits mit Julius zusammen war. Wieso hat dich das mit den Haschkeksen damals so aus der Fassung gebracht? Warum hast du nicht darüber gelacht? Weil ich es gesagt habe, oder weil du den Gedanken nicht ertragen konntest, dass du darauf reingefallen bist? Und jetzt hat Tina Julius alles gebeichtet. Sie hat deinem besten Freund erzählt, dass sie mit dir im Bett war. Und Julius hat seine Konsequenzen gezogen. Liegst du seinetwegen hier? Hast du dich am Ende in ihm getäuscht? Du hast immer gesagt, man muss die Menschen kennen. Man soll sie durchschauen. Man muss wissen, was sie wollen. Hast du ausgerechnet bei Julius, den du doch so gut kennst, etwas Wesentliches übersehen? Deine Freunde. Deine Freunde sind Wichtigtuer, die denken, sie wären Partypeople, weil sie mal im Tresor auf dem Klo gekokst haben, aber in Wahrheit fehlt ihnen zum Feiern jeder Anstand. Nur darum ging es dir damals gar nicht. Du konntest den Gedanken nicht er- tragen, dass dich eine Frau wie Tina aufs Kreuz gelegt hat. Nein, stimmt nicht. Du wolltest nicht wahrhaben, dass dir dein bester Freund Julius einen so üblen Streich spielen konnte. Das hat dich so verletzt, und das tut es noch immer.
Du hast nie Alkohol getrunken. Ich dachte immer, du bist abstinent, weil du deine grauen Zellen so liebst, weil du nicht willst, dass sie möglicherweise Schaden davontragen. Aber vielleicht hattest du Angst, jemand könnte dir die Fernbedienung aus der Hand nehmen. Bei Junkies ist es genau andersherum. Sie hassen ihr Gehirn und werfen die Fernbedienung so weit weg sie nur können. Deswegen kann man einen Abhängigen auch nicht retten. Nicht mit Worten, nicht mit Taten. Man muss zusehen, wie sie sich umbringen, unbeirrbar und beharrlich. Also wie kann es sein, dass du jetzt genau so da liegst wie Alex? Wie viele Tabletten hast du genommen? Überhaupt: Tabletten! Das passt nicht zu dir, Ludwig.
Von Alex hätte ich dir erzählen können. Er war Kulissenbauer und lebte in Kapstadt. Er war ein Künstler. Auch nach Feierabend baute er aus Resten immer irgendwas, Lampen, Bilder, Möbel, Klamotten. Seine Wohnung war ein buntes, glitzerndes Kunstwerk, eine Installation zum Drinwohnen aus Pappmache, Holz, Metall und bunten Lichtern. Ständig kam Besuch, dauernd wurde gekifft, irgendwer legte Platten auf, meistens Elektro, und überall hingen Lampen aus Draht und goldenen Stoffen. Jede Wand hatte eine andere Farbe, aber einmal hing im Wohnzimmer ein neues Bild. Es war so breit wie das Sofa, ausgesprochen imposant. Es bestand aus über hundert handbreiten Stückchen Alufolie, auf denen schwarze Striche verliefen, wie die Kriechspuren von Schnecken. Manche überkreuzten sich, andere endeten in einem dicken Punkt. Diese Schlieren entstehen, wenn man Heroin raucht, »den Drachen«, so nennen sie dort das Zeug. Ich fragte Alex, was das solle. Er meinte stolz, dieses Bild wäre das ultimative Kunstwerk; ein Teil von ihm, work in progress. Er sagte: »Nichts tut mehr weh, Anna. Es gibt keinen Schmerz, keine Furcht, keinen Kummer, es ist alles so in Ordnung, wie es ist. Man lebt, aber mit allen Vorzügen des Todes.« Alex brachte sich mit dem Tempo von tausend Schnecken um, und keiner tat was dagegen. Klar. Moipolai ga a llewe. Und wenn ich mich heute an damals erinnere, an uns DJs vom Kap, dann denke ich nicht an die Sonne, die hinter unseren Lagerfeuern unterging, nicht an die Wiesen, das Meer oder an den warmen Wind, der uns ins Gesicht wehte, oder an die Bufo-Musik von Space Teddy. Ich denke an das Bild mit den Schneckenspurenschlieren.
»Der Rausch hat mich nie interessiert«, hast du gesagt. Nicht mal bei Kopfschmerzen hast du Tabletten genommen. Schmerzen wolltest du lieber ertragen, denn sie haben dir gezeigt, du bist am Leben. Anscheinend hast du nie schlimmes Zahnweh gehabt. Oder doch? Du wolltest alles im Griff behalten. Wie anstrengend das war, habe ich miterlebt. Manchmal glaubte ich sogar, ich könnte es hören. Das Klicken und Einrasten deiner Gedankenscharniere. Als gäbe es Weichen in deinem Kopf, und lückenlose Argumentationsketten donnerten auf Gleisen geradeaus. Immer hast du vorab ausgerechnet, was dein Gegenüber sagen würde. Vielleicht hast du dich deswegen für mich interessiert. Ich habe nie viel geredet.
Es lief doch gut. Jeden Morgen bist du vor Sieben aufgestanden und hast dich angezogen. Vor allen anderen hattest du die Tageszeitungen bereits durch, die Konferenzen im Geiste komponiert. Verfielen alle in Hektik, wurdest du eisklar und kühl. War jemand laut, hast du gelassen gebeten: »Bitte!« Das nahm jedem den Wind aus den Segeln. Ich fand das faszinierend, und gleichzeitig hat es mir Angst gemacht. Ich habe wohl eine Schwäche für Typen, die über den Dingen stehen. Ich kannte schon einmal so einen. Du hättest ihn keines Blickes gewürdigt, er wäre dir kurios vorgekommen, vielleicht hättest du ihn auch widerlich gefunden. Er hieß Hugo und war eigentlich Industriekaufmann, aber damals arbeitete er als Seminarleiter für einen Guru aus Hessen. Du regst dich ja gar nicht? Ist alles okay? Eigentlich müsstest du jetzt wenigstens die Augen aufschlagen. Aber du atmest. Das ist auch immer ganz wichtig bei den Esofritzen. Das Atmen.
Was mich am meisten an Hugo beeindruckte, war die Bestimmtheit, mit der er auftrat. Was er sagte und wie er es sagte. Genau so wie bei dir. Hugo begrüßte mich auf einer Party, indem er mir tief und lange in die Augen sah und dann diagnostizierte: »Dir geht es sehr schlecht.« Vielleicht erwischte er mich in einem schwachen Moment, jedenfalls traf mich dieser Satz. Mein Herz schlug plötzlich schneller, und ich wusste, er hatte Recht. Natürlich ging es mir nicht gut. Wie auch? Ich hatte Stress wegen Mama, schwänzte dauernd die Uni, ich rauchte zuviel und warf mich jedem Typen an den Hals. Verunsichert fragte ich Hugo, woher er das zu wissen glaube. Er tat geheimniskrämerisch, aber irgendwann fand ich heraus: Er sah die Menschen wie sie waren, mit zerfranster, kackfarbener Aura. Ich sah bloß Menschen. Du hast auch immer etwas anderes gesehen als ich. Verwahrloste Gesichtsausdrücke, schlimme Frisuren, auberginenförmige Hintern, vernachlässigte Oberarme und tragische Plautzen. Ein Schal war kein Schal, sondern ein Malheur in Wollweiß. Ungeputzte Schuhe waren ein Ausweis des Versagens. Eine billige Uhr ging gar nicht.
Hugo konnte mir erklären, warum ich nicht glücklich war. Ich hing wie alle Menschen an meiner Scheiße. »Scheiße« konnte alles Mögliche bedeuten: Nikotinsucht. Fettleibigkeit. Faulheit. Neurodermitis. Krebs. In meinem Fall war es Zorn. Wäre er ein Weichei gewesen, ich hätte ihm vielleicht gar nicht zugehört. Aber er war so praktisch, so pragmatisch. Er sprach wie ein Klempner von der Seele. Er redete nicht von Erlösung, sondern von »mehr Lebenszufriedenheit«. Er benutzte Sätze wie: »Man muss schon den Schein ausfüllen, wenn man im Lotto gewinnen will.« Du hast mir nie vorgeschrieben, was ich tun soll, aber du hast mich darauf hingewiesen, was alles nicht mit mir stimmte.
Warte, ich weiß es noch. Ich lachte an den falschen Stellen über die verkehrten Witze. Ich konnte nicht schreiben. Vertraute Idioten, verkannte Genies, hatte nie promoviert und war naiv, nicht romantisch. Ich war nett zu den falschen Leuten, auch zur doofen Sekretärin mit der Bicolor-Frisur, über deren Witze du immer so laut gelacht hast, um ihr nicht vor lauter Wut über ihre Einfalt die Fresse zu polieren.
Hugo empfahl mir damals den Besuch verschiedener Seminare. In einer Gruppe sind alle eins. Das ist der Trick, die Gemeinschaft. Immer gibt es Übungen, die irgendwas mit den Eltern zu tun haben. Das ist bei vielen Sekten so, damit lassen sich Menschen besser knacken. Ich kam jedes Mal durcheinander, Hugo sagte, das wäre eine Frage der Konzentration. Außerdem fehle mir Demut. Ich spräche nicht mit dem Herzen. Irgendwann bekam ich Schnupfen vom ständigen Frieren in den Seminarräumen. Ich weiß nicht mehr wieviele Phantasiereisen ich gemacht habe. Man liegt da zu Zimbelmusik auf dem Fußboden und soll sich Sachen vorstellen. Auf einer Wiese laufen. Ein Haus betreten. Sich ein Herz in die Brust setzen. Wenn wir hinterher erzählen sollten, was wir gesehen hatten, fühlte ich mich wie ein Hochstapler. Ich hatte mir alles vorgestellt, aber ich hatte es beim besten Willen nicht sehen können.
Irgendwann ging ich nach Seminarende zum Guru. Ich erklärte ihm mein Defizit. Er erwiderte, in solchen Fällen müsste man einfach so tun, als würde man sehen, dann würde man auch sehen, das liefe auf das Gleiche hinaus. Die Seele wisse dann schon Bescheid, auch die anderen Energie- körper, am Ende würde sowieso alles auf der Impulsebene entschieden. Ich fragte, wozu dann die Seminare. Er lachte und sagte, das frage er sich manchmal auch. Im Grunde genommen brauche die kein Mensch. Jeder war so in Ordnung wie er war. Mit Fehlern. Warum die Leute trotzdem alle zu ihm kämen, könne er sich nur so erklären: Es mache ihnen wohl Spaß.
Du warst keine Gruppe, deswegen wird mir das auch jetzt erst klar. Wie bescheuert, dass man am Ende immer auf die gleichen Typen reinfällt. Du hast nie missioniert. Spiritualität war dir widerlich. Und trotzdem ist dein System genau so aufgeblasen wie das von Hugo. Ich muss es mir ein- gestehen. Ich war von deiner Überzeugtheit fasziniert. Ich wollte dir glauben, und bin in dieselbe Falle getappt. Ich habe versucht, für dich perfekt zu sein, und nun liegst du hier wie eine Absage an alles, was du jemals behauptet hast. Es ergibt keinen Sinn. Gleich setzt du dich auf und machst einen dummen Spruch, los, Ludwig, wach auf. Das Spiel ist vorbei. Ich habe genug geredet, es reicht. Es ist bereits drei, hörst du?
Ich könnte dir über das Haar streichen. Über die Stirn. Dein Atem geht ruhig. Wie vollendet du schläfst. Perfekt. Es gab mal einen Musiker, der war das Gegenteil von dir: Townes van Zandt. Er interessierte sich nur für das Kaputte. Für das, was Menschen zerriss, was sie umtrieb und heimsuchte. Die anderen Musiker nannten ihn einen Songwriters Songwriter, weil er Lieder schrieb, die sie inspirierten, die es aber nur selten in die Hitparaden schafften. Mit Siebzehn wollte Townes wissen, wie es sich anfühlte aus dem vierten Stock zu stürzen. Er überlebte. Seine Eltern hielten ihn für verrückt, ließen ihn mit Insulin behandeln, und er verlor alle Erinnerungen an seine Kindheit. Das war in den Sechzigern. Er hatte seine Gefühle behalten, aber alle Geschichten waren weg. Er besaß nur noch Scherben.
Aus diesen Scherben entstanden seine Lieder. Das erste hieß »Waiting around to die«, und das hat er in einem Kleiderschrank geschrieben. Davor saß seine hübsche, blonde Frau und hat gehäkelt und war dann maßlos enttäuscht, dass er sowas schreiben konnte; immer dachte sie, er mache Musik, um ihr seine Liebe zu erklären, dabei brauchte er das Kaputte so wie du die Perfektion brauchst. Er umgab sich mit zahnlosen Opas und verwirrten Blumenkindern, er nahm Codein und Klebstoff, hauste in abgewrackten Garagen, hing in schäbigen Bars herum und spielte zum Spaß mit abgesägten Flinten Russisch Roulette. Er ist am gleichen Tag gestorben wie sein Idol Hank Williams, an einem Herzinfarkt. Für dich wäre Townes ein versoffener Versager, der nicht hart genug war, um nüchtern zu bleiben. Aber er hat wunderbare Musik gemacht.
Und du? Du hast wunderbare Bücher geschrieben. Doch, das hast du. Ich habe zwar nicht viel verstanden, aber ich weiß, dass die wenigen Leute, die sie begriffen, aufrichtig beeindruckt waren. Jeden Morgen, bevor du ins Büro gegangen bist, hast du eine Stunde gearbeitet, jede Nacht noch ein- mal vier Stunden, egal, ob ich bei dir war oder nicht. »Reine Fleißarbeit«, hast du es genannt. Ohne Disziplin ginge gar nichts, so sei das eben, und die anderen würden es nie kapieren. Nicht Julius, der sowieso nur auf sein Erbe wartete und gar nicht wüsste, was Arbeit bedeutete. Auch nicht Anton, der die Tage verpennte und die Nächte mit Fernsehen vertat. Dich trieb immer dieser Kampf, aber warum? Du hast nie jemandem etwas beweisen müssen, sie haben dich doch immer gelobt, sie haben dir Preise verliehen, du warst doch schon der Beste. Der eine Verriss in diesem Jahr, das war doch lächerlich. Danach gab es so viele gute Besprechungen! Und das jetzt, das ist doch kein Skandal! Die, auf die es ankam, haben dich immer respektiert, und sie werden dich auch weiterhin verehren. So viele Frauen sind in dich verknallt. So viele Typen wünschen, sie wären wie du. Aber du hast dich in dieses Gekämpfe festgebissen, als würde es dich ohne das gar nicht geben.
Du hast mich gebeten, das zu verstehen. Deine Kämpfe hörten nie auf. Du hast sie ausgetragen, während ich neben dir lag, wenn wir zusammen waren. Wie furchtbar. Wie anstrengend. Und heute morgen hast du gesagt, wir müssen uns trennen. Ich habe gedacht, in Ordnung, und wollte gerade aufstehen, da hast du mich festgehalten und geschworen, dass ich nun alles begriffen hätte, dass nun alles gut sei. Ich habe mich wieder hingesetzt und dich gefragt, warum. Ich habe gefragt: »Weil?« – eine schöne kurze Frage, präzise, man kann nicht viel falsch machen. Und du hast geantwortet: »Weiß nicht. So eben.«
Am Anfang hätte ich noch reden können, kurz vor dem Anfang hätte ich etwas sagen können, so ist es ja meistens, man kann am Besten reden, bevor etwas anfängt, aber wenn es schon losgegangen ist, sitzt man bereits drin in diesem Zug nach irgendwo, in einem Boot, das treibt, in einem Bob, der talwärts fährt, die Geschwindigkeit spielt keine Rolle, man sitzt drin, und wenn man in der Bewegung redet, sind es bestenfalls Kommentare, man ist ja nicht mehr im Draußen, denn man hat bereits »Ja« gesagt, man ist teilhaftig und alles ist ein bisschen weniger geworden. Als ich am ersten Abend auf deinem Balkon stand, wusste ich: Wenn ich mich jetzt umdrehe, wirst du mich küssen, wenn ich aber einfach so stehen bleibe und in die Nacht hinausschaue und meine Zigarette aufrauche und sie in den Hof schnippe, hinunter zu den aufgeräumten Mülltonnen, auf die anständigen Fahrräder über den gekämmten Rasen, würde der Moment vergehen, doch ich habe mich umgedreht anstatt aufzurauchen, und das war im Nachhinein eine falsche Umdrehung, denn ich konnte danach nicht mehr viel sagen, es hätte nichts geändert.
Dabei hattest du es mir so schön erklärt. Warum du nicht lieben kannst, es nicht können willst und es nicht wollen kannst, und warum alle in deiner Nähe leiden, und dass das früher oder später jeder täte, weswegen es für mich das Beste wäre, wenn ich zügig meine Fanta austrinken und meinen Mantel nehmen würde, ein schönes Piece, nebenbei, und deine Wohnung und dich überhaupt verließe, denn würde ich es nicht tun, wäre das mein Untergang, meine Vernichtung, und das dürftest du niemandem antun. Ich habe dir zugehört und meine Fanta getrunken und habe mich mit Absicht im falschen Moment umgedreht.
Geht es dir gut? Du siehst fertig aus. Ich könnte dir etwas Wasser holen. Oder ich wische die Küche, da liegen überall noch die kleinen Pillen auf dem Boden, wie Zuckerperlen einer zerrissenen Kette. Am Telefon hast du gesagt: »Ich brauche eine Armee. Ich brauche eine Freundin mit tausend Pistolen.« Du denkst, ich habe noch nie geschossen. Habe ich aber. Im Oman, auf einer Shooting Range mit einem Scheich aus Dubai. Der transportierte seine Waffen immer in weißen Kartons mit goldenen Schleifen, wie Geschenke aus Vierziger-Jahre-Kinofilmen. Bei der Heckler& Koch hatte ich meine Kopfhörer nicht richtig auf. Der Knall dröhnte noch Stunden später in meinem Schädel. Aber auch das war wieder so eine Geschichte, die ich dir nicht erzählen konnte. Du hättest mir kein Wort geglaubt. Aber weißt du was? Es war geil. Es hat Spaß gemacht. Der Rückstoß war gar nicht so schlimm. Am elegantesten war die Infinity, und bescheuert kam ich mir mit einem Colt vor. Muss ein Männerding sein. Berettas sind was für kleine Frauen. Sie sehen aus wie silberne Gürkchen und fassen sich auch so an. Wir haben auf Zielscheiben geschossen. Du tust dauernd so, als wärst du im Krieg. Wir sind aber keine Kriegsberichterstat- ter. Wir berichten aus der Unterhaltungsindustrie.
In unseren Geschichten sitzt zum Beispiel ein legendärer Musiker im Gartenstuhl und erzählt von früher, während die Sonne untergeht und auf der Steinmauer neben seinem Swimmingpool Katzen herumstreunen. Das war in Henderson, einem Vorort von Las Vegas. Für viele ist die Stadt ein Ort zum Heiraten. Ich fand, Las Vegas war eine Mischung aus Gotham City, Disneyland und einem Bild von Hieronymus Bosch. Muss an mir gelegen haben. In Henderson war alles rechteckig. Die Häuser, die Straßenwinkel, die grellgrünen Rasenflächen vor den Häusern, die Fenster und die zugezogenen Rolläden. Im Haus des Musikers war alles etwas chaotisch, an den Wänden hingen Van Gogh-Poster und goldene Schallplatten, auf den Tischen lag ein Durcheinander aus Nippes und Tablettenpackungen, Mullbinden und Kippenschachteln. Seine Frau lief aufgeregt durch die Zimmer. Sie war Krankenschwester, Geliebte, beste Freundin, Mama, Haus- hälterin, Managerin, Köchin und Vermögensverwalterin. Sie stammte aus Dänemark und wollte keine Amerikanerin sein, wegen Bush, dem Alten, der war damals noch Präsident, und während sie Waschlappen wegräumte, Decken zusammenlegte, uns Journalisten Cola anbot, zwischendrin den Computer checkte, weil sie Online-Poker spielte, redete sie unentwegt von rosa Wurst, von Atlanta, wo ihre Mutter jetzt wohnte, und von der Bäckerei, bei der sie immer dann einkaufte, wenn sie ihren Mann ins Krankenhaus gebracht hatte, und dass seine Kinder ihn nicht besuchten, obwohl er ja nun an Nierenkrebs starb, jeden Tag ein bisschen mehr. Sie lachte zu laut, redete zu schnell und faltete die Decken schief. Der Musiker schlich währenddessen wie ein Geist herum. Er war siebzig, hatte schlohweiße lange Haare, trug eine Baseballkappe mit einem Drachen vorn drauf und an den Fingern viele goldene Ringe mit rosinengroßen Diamanten. An diesem Tag wollte er noch ein paar Interviews geben, die letzten vor sei- nem Tod. Ein Journalist vom Spiegel kam mir entgegen, ich fragte ihn, wie es gewesen wäre. Er meinte: »Ich habe nicht genau zugehört, aber ich habe alles auf Band.« Zehn Minuten später saß ich auf einem braunen Cordsessel, dem alten Mann gegenüber, und fragte mich, was man einen Mann fragen soll, der einem lächelnd verspricht, während dieses Interviews nicht zu sterben.
Von Bert Kaempfert wusste man, dass er am Abend vor seinem Tod noch ein Mal richtig viel Geld gewonnen hat, und dass seine Freunde das gut fanden, weil er mit dem Gedanken gestorben war, ein Gewinner zu sein. Der Musiker, dem ich damals gegenüber saß, ging trotz seiner Krankheit auch noch gern in diese Kasinos, in denen man nur das Plingen und Plieren der Maschinen hörte, und überall diese Muzak. Wie hielt er das aus? Er hatte großartige Lieder über einsame Männer, dumme Morde, langweilige Motels, texanische Rüpel und clevere Huren geschrieben. Er war ein Ge- schichtenerzähler. Warum tat er sich diese Muzak an, wenn es das Letzte war, was er möglicherweise hören würde? Eine Musik, die so tut, als habe sie eine Absicht, einen Anfang, ein Ende, in der sich alle Instrumente um einen Platz im Arrangement rangeln, keins übernimmt und keins kann alleine stehen, nie hat sie einen Text, und immer ist sie an, in den Fahrstühlen, in den Malls, in den Fußgängerzonen, auf den Parkplätzen. Immer, wenn ich in den Konferenzen saß, wenn ihr alle geredet habt, musste ich an diese Muzak denken. Ich fragte damals den Musiker, warum er ausgerechnet zum Sterben nach Las Vegas gekommen war. Weil es dort weniger auffiel? Er musste lachen. Nein, er starb dort, weil er in Nevada keine Steuern zahlen musste. Und überhaupt fand er es interessant zu sterben, nur die Nebenwirkungen der Medikamente würden ihn stören, er hätte jetzt Pickel am Arsch. Wenn er mal tot sei, sollte seine Urne auf dem Tresen in irgendeiner Bar stehen, und seine Freunde sollten sich besaufen, in der Bar, neben der Urne, und sie sollten gefälligst Geschichten über ihn erzählen. Und dann sind wir gefahren, und ich lief im Hellen durch die Nacht, weil in dieser Stadt nie das Licht ausgeht, und dann ist er gestorben, und ich habe meine Geschichte aufgeschrieben, und eine Zeitung hat sie damals gedruckt, und alle haben gesagt, das wäre eine schöne Geschichte, aber es war keine schöne Geschichte, sie war nur schrecklich und einsam und traurig. Auch sie war ein gebrochener Akkord.
Willst du sterben? Willst du das wirklich? Die Tabletten kannst du nicht alle genommen haben, es lagen noch so viele auf dem Boden. Oder habe ich eine Schachtel übersehen? Du wirst nicht sterben. Sicher schläfst du dich nur aus. Du bist nicht Kurt Cobain, der sich eine Schrotflinte in den Hals steckt, du bist auch nicht Elvis, der zuviel Alles genommen hat, du bist nicht Chemistry, die mit dem Auto eine Leitplanke erwischt. Du bist nicht Hank Williams, den der Teufel vom Rücksitz eines Autos geholt hat. Du stürzt nicht mit dem Helikopter ab wie Stevie Ray Vaughn, du verschwindest nicht spurlos wie Richey James Edwards, und du gehst auch nicht singend unter so wie Jeff Buckley. Du bist noch nicht mal ein Dave Gahan, der immer nur versucht hat zu sterben, du hast kein Lied wie »It doesn’t matter anymore« gesungen, das wir nach deinem Tod hören könnten, so wie Buddy Holly. Du bist nicht Johnny Ace, der sich aus Versehen erschossen hat, du wirst auch nicht mit Absicht abgeknallt so wie Biggie, Tupac oder Marvin Gaye. Du würdest dich nie mit einem Gürtel an einer Türklinke erhängen so wie Michael Hutchence, du fällst nicht vom Fahrrad wie Nico, und in dich fährt auch kein Bus rein so wie in Falco. Du kippst nicht beim Proben tot auf der Bühne um, so wie Johnny Guitar Watson. Du würdest dich nie totsaufen wie Rio Reiser. Du hältst »Junimond« für ein Liebeslied, dabei ist es ein Abschiedsbrief. All diese Leute bist du nicht. Deswegen könnte ich einen Tee kochen, ich könnte dir etwas vorlesen, ich könnte einen Kuchen backen. Mir ein Bad einlassen. Wusstest du, dass Ian Curtis gerne Reggae hörte? Es gibt ein Buch, das seine Frau Deborah über ihn geschrieben hat. Es ist – wenn nicht das beste – doch ein sehr gutes Buch über den Tod im Pop. Es heißt »Aus der Ferne«. Das hättest du mal lesen sollen.
Du kannst es nicht ernst meinen, nicht bei deinem Perfektionismus. Nirgendwo eine Zeile, kein Brief, nicht einmal ein paar Klamotten, die herumliegen. Wenn du kein Outfit anhast, gibt es auch kein Statement, oder sollen uns am Ende deine Uhren was erzählen? Alles andere ist doch viel zu neu, um eine Geschichte zu haben. Keins deiner Möbelstücke ist älter als ein Jahr. In den Altenheimen richten sie die Fremdenzimmer mit den Möbeln Verstorbener ein. Du würdest in so einem Raum ersticken. Wenn ich an den Wochenenden dort übernachtet habe, saß ich oft auf irgendeiner geblümten Sofagarnitur unter einer wagenradhaften Holzimitatlampe. Vor mir ein runder Couchtisch mit Seidenblumengestecken. Ich schaute auf einem Achtzigerjahre-Telefunkenfernseher Filme auf Pro Sieben und konnte mich aber nie auf die Handlung konzentrieren. Ich dachte dort immer: Auf diesem Sofa haben mal andere Leute gesessen. Auf dem Couchtisch hat mal eine Torte gestanden, die Seidenblumendinger waren irgendwann einmal von jemandem gekauft worden, dem sie gefielen, aber von wem? Diese hässlichen Möbel erzählten einem lauter Geschichten, und deswegen habe ich da nie gut geschlafen. Ich konnte keine Vase sehen, wo eine Vase war. Du hast schon Recht. Neu ist einfach. Aber es ist auch feige.
Und jetzt soll ich dir glauben, dass du sterben willst. Ich habe keinen Brief gefunden, nicht hier, nicht im Bad, nicht in der Küche, nicht auf deinem Schreibtisch und auch nicht in deinem Wohnzimmer. Selbst Kurt Cobain hatte einen. Oder willst du nicht, dass man mit deinem Brief macht, was sie mit seinem taten? Einen Tag nach seinem Tod las seine Witwe Courtney Love der versammelten Menschenmenge vor ihrem Haus seinen Abschiedsbrief vor. Drin stand: Weiß nicht mehr weiter, kein Ausweg, Verzeihung. Er ertrug es nicht mehr, so tun zu müssen als ob. Er konnte keine Freude mehr empfinden. Er liebte die Menschen, und er hasste sie dafür. Gegen Ende wurde seine Schrift krakelig und kaum lesbar, er wollte wohl Papier sparen oder eben nur einen Abschiedsbrief schreiben und nicht Eineinsechzehntel, er quetschte die letzten Worte, auch den Namen seiner Tochter Frances Bean an den Rand des Papiers. Ich weiß das, denn ich habe diesen Brief. Natürlich nicht das Original. Wenige Stunden, nachdem sie den Brief vorgelesen hatte, gab es in Seattle T-Shirts mit Abschiedsbrief-Aufdruck zu kaufen, und meine Aufgabe war es gewesen, so ein Ding zu besorgen, für irgendeinen bekloppten Foto-Jahresrückblick einer bescheuerten Lifestyle-Zeitschrift. Das Shirt kam per Post, wurde fotografiert, und ich bekam es zerknittert zurück. Irgendwann zerschnitt ich es und rahmte das Stück Stoff, auf dem der Brief gedruckt war, in einem schönen, silbernen Rahmen aus Metall.
Du hättest ebenfalls mit der Hand geschrieben. Was hätte wohl dringestanden? Von wem würdest du dich verabschieden wollen? Von deiner Familie? Nein. Wenn du an sie gedacht hättest, würdest du hier nicht liegen. Du hättest eine Begründung aufgeschrieben. Aber das wäre dann wieder ein ganzes Buch geworden. Oder ein Zitat? Schwer, sich auf etwas zu einigen. Am Ende taugen die Worte nur zu etwas Praktischem. Ich habe mal einen Brief gefunden, obwohl es streng genommen gar kein Brief war. Es gab keine Anrede, keine Unterschrift, nur Anweisungen: Bei einem Bauvorhaben Dachfenster austauschen. In der Domäne den Innenausbau erneuern. Ein paar offene Rechnungen und die Namen von Firmen, welche die Aufträge übernehmen sollten, die mein Vater nicht mehr wahrnehmen würde. Er hatte in sauberen Druckbuchstaben geschrieben. Nirgendwo ein Fleck, keine unregelmäßige Strichführung, gerade Sätze auf einem kariertem Zettel, Din A 4. Du hast nicht an Morgen gedacht, du hast nichts vorbereitet, du weißt gar nichts. Nichts.
Weißt du, warum sie immer nach einem Grund fragen? Weil sie sich nicht vorstellen können, dass es keinen gibt. Es gibt aber keinen. Es gibt nur einen Moment. Einen glasklaren Augenblick, in dem alles auf einen Punkt zuläuft. Einen, der keine Alternativen zulässt. Dieser Moment ist ohne Zweifel. Er leuchtet, und man muss ihm nur wie einem Lichtstrahl folgen. Es ist kein Horror, es ist nicht dramatisch, ich glaube es ist in Wahrheit am Ende ganz leicht. Das Schwere ist davor. Davor kommen immer die Gespenstertage. Man geht dann nicht mehr eine Straße hinab, man schiebt sich im stehenden K.O. durch die Welt, die Füße bewegen sich von allein, die Menschen um einen herum sind einem völlig egal, man nimmt sie gar nicht wahr, und wenn doch, fragt man sich sogleich, ob sie einem nicht ansehen, was für ein Schwindler man ist. Alles wird auf einen selbst zurückgeworfen, und man lebt sich durch die Gegend und denkt: Ich sehe aus wie ein Mensch, aber ich bin keiner. Ich habe Augen wie ein Mensch, aber ich sehe die Welt nicht mehr, ich sehe etwas vollständig Fremdes. Ich habe Arme und Beine, aber ich tue nur so, als würde ich laufen, ich gebe vor, mich zu verhalten, ich fliege mich auf Autopilot, und es kostet mich große Konzentration, nicht gegen Busse zu laufen oder vor Wände. Das Unglück hat dann ein Gewicht erreicht, dass einem die Zeit vorkommt wie schweres Wasser. Wie war es bei dir, Ludwig?
An Gespenstertagen sinken die Dinge immer auf den gleichen Grund. Gewinnt man beim Kartenspiel, denkt man: Doch alles andere geht entzwei. Verliert man, denkt man: Ich verliere immer. Alle Gedanken schlurfen willenlos dahin, es gibt kein Ausruhen, keinen Ausweg, keinen Halt. Man ist ein müder Stromkreis. Marschiert von der Quelle los, wird verbraucht, aber nicht weniger. Man ändert seine Richtung nie, es wird nichts langsamer, nichts schneller, und dann kommt man wieder am Anfang an, und alles geht von vorne los. Wie ein Elektron mit einer immer gleichen negativen Ladung. Manche Leute sterben, ohne zu wissen wie Brombeereis schmeckt, wie sich ein Orgasmus anfühlt, wie die Luft in viertausend Metern Höhe flirrt. Sie sterben, ohne Heroin geraucht zu haben oder mit Absicht auf die falsche Fahrbahn der Autobahn eingebogen zu sein. Sie haben kein Kind geboren, niemandem die Fresse poliert und sich nie vollständig vor tausend Leuten blamiert. Andere sterben, weil sie einen Moment erleben, in dem alles aufeinanderfällt. Die Gespenstertage. Das Alleinsein und ein Ereignis. Es kann jederzeit und überall passieren. Etwas bricht in die Welt ein und steht da, ohne Zusammenhang, ohne Grund, und wenn das da so vor einem stehen kann, dann kann auch jederzeit etwas absolut Unmögliches wahr sein. Man könnte etwas vollständig Sinnloses tun. Den Rahmen sprengen. Die Welt verändern. Einen Schalter umlegen. Das geschieht jeden Tag. Sicherungen brennen durch. Schutzschalter knallen aus den Wänden. Glasklare Momente tauchen vor einem auf wie leuchtende Rutschbahnen. Dann muss Leben nur noch diesen einen Augenblick erwischen, an dem keiner hinsieht. An dem keiner aufpasst, kein Schutzengel, kein Streifenpolizist und auch kein Kumpel. Auf meinen Vater hat an diesem Morgen keiner aufgepasst.
Ich war damals siebzehn und wachte in meinem Kinderzimmer auf, weil jemand schrie. Ich weiß noch alles: Ich mache die Augen auf, die Sonne grellt mir ins Gesicht, springe auf, renne die Treppe runter, in den Keller, und sehe ihn, er hängt an einem Heizungsrohr. Ich nehme einen Hocker, stelle mich drauf, hebe seinen Körper an, halte ihn und brülle meine Mutter an, sie soll ein Messer holen, eine Schere, irgendwas. Später haben mich die Bullen gefragt, wie ich das konnte, ein so zierliches Mädchen, einen so schweren Mann hochheben, und ich sagte, weiß ich nicht, und sie machten Notizen. Nach einer endlosen Ewigkeit kam meine Mutter mit einem Messer, und sie schnitt das Seil, es war ein Abschleppseil, rot und schwarz, es war noch ganz neu.
Du bist nicht er. Du atmest. Du liegst da wie ein Mann im Schlaflabor, oder nehme ich das nicht richtig wahr? Es kann dir nicht alles egal geworden sein. Die vielen Filme und Bücher und Schuhe, dein Erfolg, die Uhren, der nächste Moment!
Man bringt sich um, wenn man an nichts mehr hängt. Oder wenn nichts mehr an einem hängt. Wie soll man das auch sonst formulieren? Als ich einmal in England war, sah ich eine Fernsehserie aus den Sechzigern, sie hieß »The Prisoner«. In einer Folge durfte der Gefangene vor seiner Hinrichtung dem Zentralcomputer eine Frage stellen. Er schrieb etwas auf und fütterte den Rechner damit. Kurz darauf explodierte der Computer. Der Gefangene war gerettet. Er hatte eine Frage gewählt, die niemand beantworten kann: »Warum?«
Das ist überhaupt das Schlimmste, hinterher, diese dumme, lästige Frage. Warum. Man wird sie gefragt, von allen, man fragt sie sich selber, doch man gerät in ein Netz, in ein Darum-Kraftfeld, aus dem man nicht mehr rauskommt, das einen dazu bringt, entweder wie ein Computer zu explodie- ren oder wie ein Mensch diese Frage unbeantwortet zu lassen und weiterzuleben. Immer wieder meinen es die Leute gut und bewerfen einen mit Worten wie zum Beispiel Kurzschlussreaktion, als würde man dann aufhören, sich den Kopf zu zerbrechen. Als wäre es möglich, mit dem Grübeln aufzuhören. Dabei kann diese Frage nur von einem Menschen beantwortet werden, und der ist tot.
Du sagtest einmal am Telefon: »Ich will von dem richtigen Menschen verführt, vergewaltigt, hingerissen werden.« Und solange das nicht so sei, bliebest du eben allein, basta. Und ich habe geantwortet, dass ich müde sei, und dass es vielleicht gut wäre, wenn wir einschlafen könnten. Dann hast du gesagt, wie toll das wäre, wie ich reagiere. Und mir super Träume gewünscht, und ich habe aufgelegt. Und geschlafen.
Oft male ich gedankenverloren Kringel auf Papier, selbst wenn ich nicht telefoniere. Jedes Mal denke ich, es wird eine Blume oder wenigstens ein Ornament, aber es ist immer nur irgendein formloser Unsinn. Weswegen hast du mich vorhin noch mal angerufen? Wolltest du, dass ich zurück komme? Wolltest du mir noch etwas sagen? Das »Aus« zurücknehmen?
Was ist los? Wenn ich deinen Tag betrachte, ist doch nichts Schlimmes passiert. Du selbst hast damit gerechnet, dass deine Fälschungen rauskommen könnten. Du hast gesagt, dafür gäbe es Anwälte. Wieso kannst du plötzlich damit nicht umgehen? Hat es dich getroffen, dass ausgerech-net Julius diese Mail geschrieben hat? Du hast immer gesagt, er ist dein bester Freund, wobei ich bis heute nicht verstehe, was ihr unter Freundschaft versteht. Du hast mir erzählt, wie der Konkurrenzkampf zwischen euch ausbrach. Dass du ihm nicht über den Weg trauen durftest und daher mit Tina geschlafen hast, um etwas gegen ihn in der Hand zu haben, wie in Puschkins Erzählung »Der Schuss«. Als ich dich einmal fragte, ob du ihn liebst, hast du gelacht. Irgendetwas hat heute dazu geführt, dass dir die Kontrolle entglitten ist. Es muss dir etwas aus der Hand gerutscht sein, aber was? Deine Lider zucken. Du hörst mich ja doch.
Was habe ich übersehen? Gab es eine Botschaft, eine Kleinigkeit, heute morgen beim Frühstück? Hätte ich dir widersprechen sollen? Ich würde gerne alles richtig machen. Darauf kommt es doch an, oder? Tue ich das Richtige, indem ich nichts tue, nur rede? Es regt dich auf, wenn ich nach Worten ringe, mich wiederhole. Aber ich ringe nicht nach Worten, ich habe nie nach Worten gerungen, sie sind mir nur nicht eingefallen, und die, die mir eingefallen sind, die konnte ich nicht sagen, weil du sonst wieder ausgerastet wärst. Ich wollte dir von meinem Vater erzählen, von Afrika, aber ich kam nicht weit. »Das Opfer«, hast du gebrüllt, »schon wieder eine Opfergeschichte!« Wie ich dazu käme, immer so etwas zu erzählen. Begreifst du eigentlich, was du mir gerade antust? In welche Welt du mich zurückschickst?
Du liegst da und du hast keine Ahnung. Du weißt überhaupt gar nichts vom Sterben, und das ist auch nicht schlimm, das musst du auch nicht wissen. Aber sag du mir nicht, das würde dich krank machen, wenn ich rede. Meine Geschichte ist keine Opfergeschichte, es ist eine viel schlimmere. Einen Tag vor seinem Tod gab mir mein Vater im Flur einen Zettel. Ich las die ersten Zeilen: »Ich kann nicht mehr, bitte verzeiht mir.« Dann tat ich etwas, ohne zu überlegen. Ich stopfte den Zettel unter seinen Pullover, schob meinen Vater von mir weg, rannte in mein Zimmer, warf mich aufs Bett, hielt mir die Ohren zu. Ich wusste, ich mache einen Fehler, stecke in einem Riesenfehler drin, mir wurde kalt, dann lief ich zurück, doch er war bereits weg. Ich stand im Flur und rief seinen Namen, aber ich suchte ihn nicht. Dann ging ich zurück in mein Zimmer, setzte mich an den Schreibtisch und berechnete die Ableitung der Ableitung der Ableitung.
Und dann muss man damit leben, dass man wusste, was passieren würde und trotzdem nicht eingegriffen hat. Man kann das niemandem erzählen, man traut sich nicht, man verbirgt es in sich. Man geht über die Strasse, aber man gehört nicht mehr dazu. Man trägt einen Makel, ist verseucht, ist allein. Nicht irgendwie ein bisschen allein, weil die anderen Kinder nicht mit einem spielen wollen. Nein, man ist wirklich und tatsächlich aussätzig. Das Wort kennst du nur aus deinen russischen Romanen, aber ich will dir sagen, wie sich das anfühlt. Man überlebt jeden Tag mit Schauspielerei und fängt die Spurensuche an. Man sucht in jedem Gespräch, jeder Begegnung einen Beweis dafür, dass man nicht Schuld ist. Dass man sich alles vielleicht nur eingebildet hat. Man fällt auf Arschlöcher rein, die einem erklären, was mit einem nicht stimmt. Man verbringt seine Zeit mit feiersüchtigen Volltrotteln in einem Land, in dem es vielleicht nicht auffällt, dass man gar nicht dazugehört, nirgendwohin mehr dazugehören kann! Man versucht Leute vor etwas zu retten, auch wenn sie gar nicht gerettet werden wollen.
Du hast zu mir gesagt: »Ich will, dass du heile aus der Sache herauskommst«, als wäre ich eine vorübergehende Erscheinung, als wäre es von Beginn an vorbei gewesen. Nichts ist vorbei. Nie ist etwas vorbei! Ich habe heute den halben Tag mit Leuten zugebracht, die du nie kennenlernen wirst. Ich habe einen Rollstuhl in der Gegend herumgefahren, ich habe einen alten Mann in einen Sessel gesetzt, ich habe mich für Waffeln in eine Schlange gestellt, ich habe mit einem schlecht gelaunten Direktor über Pflegezustände geredet, und immer wieder habe ich dabei an dich gedacht. Ich hatte dich bei mir. Und jetzt sitze ich hier und rede. Nur einen Moment lang. Bis der nächste kommt.