Die Navigation

Als die amerikanische Autorin Nora Ephron mit ihrem Mann bei einer Autoreise die Orientierung verlor, nahm sie den Atlas und bemerkte, solange man sich auf einer Karte wiederfinde, könne man in der Welt nicht verloren gehen. Wenn sie wüsste, was auf sie zukommen würde. Heutzutage geht niemand mehr verloren, zumindest keiner, der ein Handy besitzt.
„Die gucken gar nicht mehr hoch“, schimpfte neulich ein Bekannter in London über Fußgänger, die zur Orientierung das Handy benutzen. „selbst wenn sie gar keins in der Hand halten, achten sie nicht auf den Verkehr!“
Ich wollte gerade echoen: „Genau! Teufelsdinger!“, doch dann erinnerte ich mich: Früher war das auch nicht besser. Da lief man durch London, in der Hand ein zerfleddertes Ringbuch, den sogenannten A to Z. Den musste man genau fixieren, denn die winzige Typo war eine Zumutung für die Augen, und oft genug lag ausgerechnet gerade die Straße, die man suchte, im Knick oder am Bildrand.
Oder es regnete. Oder es war zu dunkel, um die Karte zu entziffern. Analoges Teufelszeug eben.
Um die Nullerjahre etablierte sich in Großbritannien zwar die digitale Suchmaschine streetmap.co.uk, die bald von Google abgelöst wurde, doch in Ermangelung an internetfähigen Endgeräten waren beide fü den Straßenverkehr völlig unbrauchbar. Es sei denn, man hatte vorher die halbe Website ausgedruckt und mit eingepackt.
Aber in einer sache hatte der Bekannte recht. Nahezu jeder benutzt inzwischen das Handy als elektronischen Fährtenleser. Die Erde ist eine Scheibe, auf der man herumwischen kann.
Im British Museum ist sie das tatsächlich auch. Da gibt es im Erdgeschoss einen hohen, märchenhaften Raum, der wirkt wie Indiana Jones’ Bibliothek. Eine Mitarbeiterin erklärte dort neulich die keilschrift. Die Symbole dienten dazu, den Überblick zu behalten, über die Ernte, die Mengen an Getreide, die Anzahl der Einwohner, sagte sie. Doch die allerersten Mitteilungen, die Menschen füreinander hinterließen, waren Landkarten, sagte sie.
Wo grasen Mufflons? Wie kommt man da hin? Die älteste Landkarte der Welt befinde sich ein Stockwerk über uns, in Abteilung 55, gleich neben den Mumien.
Und tatsächlich, in einer gläsernen Vitrine lag etwas, das aussah wie ein abgebrochener verbrannter Spekulatiuskeks. Der Stein stammte aus Assyrien und zeigte Mesopotamien zur Zeit des Gilgamesch-Epos vor rund 4000 Jahren, hergestellt etwa 800 vor Christus.
Man sah Babylon, den Euphrat, umrahmt von kleinen keilförmigen kerbungen. Ihre tiefere Bedeutung noch immer ein Rätsel. Nur eines weiß man sicher. Die Menschen, die sie erschufen, gingen von dem Diktumaus: Das Zentrum der Welt bin ich.
Ein paar Tausend Jahre später blinkt auch auf dem Handy der Pfeil da, wo man steht. Wer nicht weiß, wo Norden liegt, muss sich wie mit einem Kompass immer erst mal einpaar Mal drehen, um zu ermitteln, wo er hinwill. Viele laufen zunächst in die falsche Richtung, und weil die GPS-Daten nicht so schnell hinterherkommen, merkt man das manchmal erst nach einer Weile.
Würde man hochgucken,man sähe vielleicht ein nettes Café, einen interessanten Slogan, ein Straßenschild, einen freundlichen Menschen, ein kurioses Wildtier, einen hinreißenden Mantel.
Aber man guckt nicht hoch. Man starrt auf den Pfeil. Oder man wischt kurz,und da ist ein nettes Café, man wischt wieder, und da ist ein interessanter Slogan, man wischt erneut, und da ist ein Straßenschild, ein freundlicher Mensch, ein kurioses Wildtier oder ein hinreißender Mantel. Nicht in der Welt.
Die ist uns verloren gegangen.

erschienen am 30.3.25 in der FAS