Bubbles hat es nicht so gemeint. Da bin ich mir sicher, doch nun habe ich den Salat und stehe in London in der Schlange vor der Klinik. Bubbles ist ein schwarzer Kater, und er hat mich gestern gebissen. Wie gesagt, aus Versehen.
Doch weil er mir seit Tagen allmorgendlich eine geköpfte Maus vor die Terrassentür gelegt hat, und weil die Wunde schmerzt, hätte ich gern einen Arzttermin. Wer weiß, wo seine Zähne überall noch waren.
Es ist kurz nach acht Uhr morgens in Hackney. Vor mir wartet eine Frau. Sie weiß auch nicht, ob wir hier richtig sind. Hinter mir sitzt ein Mann im Rollstuhl. Er packt eine Stulle aus und eine Thermoskanne mit Tee. Vor uns warten acht Personen.
„Ich habe einen Termin für Sie, in drei Wochen können Sie mit Ihrem Arzt telefonieren“, sagt der nette Rezeptionist zu dem schwerhörigen Herrn, der gerade dran ist. Ich blicke mich um. Überall hängen Poster oder Schilder, die einen auffordern, sich selber zu behandeln oder zumindest zu checken, ob man wirklich einen Arzt braucht. Vielleicht gibt es hier gar keinen Arzt, denke ich. Der Herr ist schon der zweite, der nur einen Telefontermin bekommen hat.
„Stehen Sie hier für einen Termin an?“, fragt mich eine Frau, die gerade hereinkommt.
„Nein, für einen Arzt“, will ich antworten, aber nicke nur.
Der NHS, das öffentliche Gesundheitssystem in Großbritannien, ist in Not. Lange Wartelisten, überfällige Reformen und Ärztemangel sind nur drei der vielen Probleme, die das System nachhaltig an seine Grenzen gebracht haben. Zu viele Nachfragen für zu wenige Ressourcen. Auch ich, als Reisende, hätte selbst ohne eine Auslandskrankenversicherung theoretisch einen Anspruch darauf, dass man mir hilft. Vielleicht nicht heute, aber irgendwann.
Hier sei ich leider falsch, sagt der Rezeptionist mit liebenswürdiger Stimme als ich ihm mein Anliegen schildere. Er googelt. Es gebe in der Nähe Walk In Kliniken, aber vielleicht rufe ich selber mal die 111 an. Er ist so nett, ich bedanke mich, gehe raus, telefoniere, kein Anschluss. Etwas später finde ich online eine Klinik, aber auch dort kann man mir nicht sofort helfen, ich solle mich registrieren und in ein paar Tagen vorbeikommen.
Online buche ich einen Termin für in zwei Stunden bei der nächstgelegenen Privatklinik. Ich gebe meine Kreditkartendaten durch, erhalte eine Bestätigung und prompt darauf folgt eine Absage per SMS. Ich möge bitte anrufen, einen neuen Termin vereinbaren. Das tue ich. Erhalte eine Bestätigung, und prompt darauf erneut eine Absage. Ich möge bitte nochmal anrufen.
Gegen Mittag bin ich auf dem Weg zur Oxford Street, da wurde mir zwar auch abgesagt, aber ich ignoriere das jetzt einfach mal.
In den Praxisräumen begrüßt mich eine freundliche Empfangsdame: „Wir wollten ihnen gerade absagen.“
„Ich weiß“, erwidere ich.
„Wir haben keinen Tetanus Impfstoff.“
Ich sage, „das macht nichts, ein Arzt würde mir schon reichen.“
Sie nickt und lässt mich eintreten.
Der Arzt ist ein netter Grieche mit starkem Händedruck. Er sei ja mehr so der Hundetyp, sagt er.
Ich auch, sage ich. Er misst meinen Blutdruck, googelt Katzenbisse, verschreibt mir Antibiotika und fragt, ob ich in 25 Minuten an der Liverpool Street sein könne, sein Kollege habe eine Tetanus-Dosis da. Ich renne zur Bond Street, nehme den nächsten Zug mit der Elizabeth Line und erreiche außer Atem die nächste Praxis.
„Guten Tag“, begrüßt mich der britische Arzt auf Deutsch.
„Sprechen Sie etwa deutsch?“, frage ich.
Nein, erwidert er auf Englisch, aber er habe mal in Hamm gewohnt, von 2014 bis 2016.
Mein Mann käme aus dem Ruhrgebiet, sage ich.
Er habe mal im Elisabeth Krankenhaus in Recklinghausen gearbeitet. Donnerwetter, sage ich. Aus Recklinghausen stamme unsere Familie, sage ich.
Wie schön, ruft er. Bisher sei sein Tag langweilig gewesen, aber jetzt nicht mehr.
Wie ich denn England finden würde, alles so gut organisiert, was?
Ich mache ein vielseitiges Mh-Geräusch. Die Menschen sind freundlich, sage ich.
Stirnrunzelnd betrachtet er meine Wunde. Er sei Katzenspezialist und die Wunde da sehe infiziert aus. „Bubbles hat es nicht so gemeint“, sage ich.
Er zieht die Spritze auf, piekst und ruft: „Ich liebe Deutschland!“
erschienen 24.11.24 in der FAS