Stirb langsam

Auf Okinawa gehen die Uhren anders, die Menschen leben hier länger. Warum?

Meitetsu Yagi, Arezu Weitholz, Ippei Yagi
Meitetsu Yagi, Arezu Weitholz, Ippei Yagi im Halekulani Hotel auf Okinawa

Jetzt lernen wir erstmal zu stehen. Die Füße nicht mehr als schulterbreit auseinander“, sagt der Sohn der Legende. „Greift mit den Füßen in den Boden.“ Wir krallen unsere Zehen in den Teppich des Konferenzraumes. Draußen rauscht das Meer. Wir warten. Die Legende nickt. 

Meitetsu Yagi ist 74 und Oberhaupt des Meibukan Dojo. Meibukan heißt der Karatestil des Gōjū-ryū Karate, Dojo bedeutet Schule oder geistige Heimat. Er ist Großmeister, Täger des schwarzen Gürtels, 10 Dan und in der Welt des Karate gibt es nicht viele wie ihn. Sein Sohn Ippei Sensei sagt auf japanisch: „Allein diese Übung, einmal täglich, wird eure Gesundheit verbessern.“ Sein Vater Meitetsu übersetzt. Wir krallen und nicken. 

Okinawa ist die südlichste der großen Inseln und die un-japanischste, heißt es. Angeblich sind die Leute hier lockerer, sie haben wie man auch sagt „mehr Tee“. Bis 1879 war Okinawa ein eigenständiges Königreich mit Namen Ryūkyū, mit einer eigenen Sprache, einem eigenen Zeitgefühl, Uchunaa, und dem für das aufgeräumte Japan eigentlich untypischen Begriff „Nankuru nai sa“ – das wird schon irgendwie. „Stellt euch vor, ihr seid ein Baum mit Wurzeln. Spannt mit entschlossener Anstrengung. Bei einem Kampfsportler besteht der Körper aus Füßen und Beinen. Erst, wenn du die Füße wie die Hände benutzt, fängst du an.“

Die Karatestunde, an der wir gerade teilnehmen, ist Teil des Langlebigkeitsprogramms des Halekulani Hotels, das gemeinsam dem Wissenschaftler Professor Dr. Masashi Arakawa von der Universität Ryūkyū entwickelt wurde. Langlebigkeit oder Longevity, das klingt in unmittelbarer Nachbarschaft zum  Begriff Anti Aging, als habe man sich nun endlich damit abgefunden, dass man älter wird; jetzt geht es nur noch darum, das auch möglichst lange möglichst gesund zu bewältigen, und genau das bedeutet der Begriff auch. In Japan scheinen die Leute zu wissen, wie das geht, die Lebenserwartung ist seit Jahren konstant hoch. Auch 2022 rangierte das Land je nach Rangliste auf Platz 1 oder 3 im weltweiten Vergleich, für 2023 prognostizierte das Gesundheitsministerium für Japanerinnen eine Lebenserwartung von 87,57 Jahren, für Japaner bei 81,47 Jahren. 

Die meisten über Hundertjährigen leben auf Okinawa, weswegen Forscher und Soziologen die Riten und den Lebenswandel der Insulaner untersuchen. Das Halekulani Hotel bietet zwei Touren zu diesem Thema an. Die eine heißt: Entdecke Umui, den Geist der Insel. Da pilgert man mit einem Führer zu den heiligen Stätten der Ryūkyū, lernt etwas über die Mythologie und den Glauben, der auf der Verehrung und der Verbundenheit zur Natur fußt, man meditiert, besucht eine der reinsten Quellen Japans, ein traditionelles Teehaus und reflektiert über seine Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Wir jedoch entdecken heute Mabui, die Seele der Insel.

Strand des Halekulani auf Okinawa
Strand des Halekulani auf Okinawa

„Könnt ihr stehen, ohne dass ihr fallt, wenn euch jemand schubst?“ Wir krallen die Füße erneut in den Boden, werden geschubst, torkeln, nochmal.

„Okinawa Karate trainiert den Körper, verfeinert Fähigkeiten, doch das wichtigste ist das mentale Training“, sagt Meitetsu Yagi. „Es geht darum, ein besserer Mensch zu werden.“ Der Stil mit Namen Gōjū-ryū wurde Anfang des vergangenen Jahrhunderts von Chōjun Miyagi mitbegründet. Er unterrichtete Meitoku Yagi, Meitetsus Vater, der aufgrund seiner Fähigkeiten von Kaiser Hirohito als lebender Nationalschatz bezeichnet wurde. In Japan, insbesondere beim Karate, ist die Weitergabe des Handwerks und auch des Anzugs innerhalb einer Familie von Bedeutung. Meitoku Yagi Sensei – Sensei bedeutet Lehrer – unterrichtete Meitetsu Sensei, der unterrichtete Ippei Sensei und der wiederum seine Kinder.

„Atmung, Bewegung und Geist sind miteinander verbunden“, übersetzt Meitetsu. „Viele Menschen atmen nicht fest genug ein. Presst die Füße zusammen, spannt die Muskeln an, konzentriert euch auf den Bereich knapp über und unter dem Nabel und atmet entschlossen aus.“ Aus drei Kehlen kommt ein müdes „Chah“. „Legt euch ins Zeug! Legt Kraft in euer Ausatmen!“ Wir atmen aus: „Chassss.“ „Diese Übung reguliert und stabilisiert das autonome Nervensystem. Sie ist der beste Weg, ein langes Leben zu führen. Zehn Mal am Tag, das führt zu einer guten Durchblutung und damit zu mehr Blut im Gehirn und mehr Gesundheit“, sagt er. Ich atme und bin ein Baum mit Wurzeln und denke, vielleicht ist Okinawa Karate eine Art Fundament.

Meitetsu Yagi begann mit sechs, erlangte mit 16 den schwarzen Gürtel in Karate wie auch im Judo und hat seitdem keinen Kampf im Streit geführt, sagt er. „Karate ist, eben nicht zu kämpfen. Es bedeutet, nicht andere, sondern das Unperfekte in einem selbst zu besiegen.“ Wir drehen uns, lernen in einer Kreisbewegung Schläge abzuwehren, den Rumpf zu schützen, den Kern. „Was ist der Kern? Deine Schwachpunkte. Körperlich und mental.“ Karate sei ein Mittel gegen Trauer und Angst, sagt er. „Wenn du wütend bist, zähl bis zehn. Fühlst du dich leer, atme. Glaub an dich, aber denk nicht, du bist besser als andere. Ein starker Mann muss seine Stärke nie zeigen.“

Nach einer Stunde sind wir erschöpft, aber seltsam aufgeladen. Wir verbeugen uns. Er schenkt uns eine Kalligrafie, die er angefertigt hat, darauf steht das Symbol für Freundschaft und Verbundenheit. Dann lädt er uns später in das Dojo ein, das am Hafen liegt. 

Im Hotel Halekulani gibt es für die Teinehmer noch Mittagessen, oder anders: Kusuimun, die Medizin für Körper und Geist, auch ein Element, das langes Leben bewirken soll. Typisch für hier ist Champurū (übersetzt: Vermischen), eine Nudelsuppe auf Dashi-Basis  mit regionalem Gemüse, lange gegartem Schwein, gewürzt mit Kōrēgusu Soße, die aus dem Reisbrand Awamori und dem hiesigen Pfeffer gemacht wurde. Die Nudeln, sonst mit Buchweizenmehl, sind hier aus Weizenmehl. Dazu gibt es Salat mit der berühmten Bittergurke (Goya), die gar nicht bitter schmeckt, Meerestraubenalgen (auch grüner Kaviar genannt) mit Shikuwasa-Zitrusdressing und einen Mango Cocktail mit Oolong Tee. Die Suppe duftet köstlich, es fällt schwer, das so genannte Hara hachi bun me anzuwenden, auch eine der Techniken, die langes Leben bewirken sollen: man füllt dabei den Magen nur zu 80 Prozent. Diese Methode, in ganz Asien verbreitet, kommt angeblich aus dem Konfuzianismus. Kann man sich also alt essen, beziehungsweise alt hungern?

Es seien Gene, nicht der Lebenswandel, meint Altersforscher Professor Nir Barzilai, der eine Langzeitstudie am Albert Einstein College of Medicine in New York leitet und auch zu  Diabetesmitteln wie etwa Metformin forscht, das in der hippen Founderszene als Abnehmpille beliebt war, bevor die Ozempic und Wegovy für sich entdeckte. Unlängst spendete ein 26jähriger Crypto-Investor 2,8 Millionen Dollar für die Forschung des Professors.

Dass es an den Genen liegt und man sowieso  nicht viel machen kann – wollen viele nicht glauben. Im vergangenen Jahr wurden insgesamt 5,2 Milliarden Dollar in den Aufbau der Verjüngungsindustrie gesteckt, Schlagzeilen machte letztens ein Hedge Funds Manager, der sich Blutplasma seines Sohnes spritzen ließ, um den Alterungsprozess  aufzuhalten. Denn eins ist inzwischen klar: viele der heute über Hundertjährigen erkranken an den gleichen Krankheiten, an denen die anderen sterben, nur eben viel, viel später. 

Neurowissenschaftler Ken Mogi erklärt in seinem Buch Igikai, auf Okinawa seien neben der ausgewogenen Ernährung, das Gefühl von Gemeinschaft und das Bewusstsein für Spiritualität wesentliche Faktoren für das, was das Leben lebenswert mache. Auch der Jounalist Dan Büttner, der im National Geographic die sogenannten Blue Zones der Welt definierte, jene Regionen, in denen die Menschen überdurchschnittlich lange leben, fand, dass die soziale Komponente eine Rolle spiele. Ob in Okinawa, Costa Rica, Sardinien, Ikaria oder Linda Loma in Kalifornien –  in allen Blue Zones lebten die Menschen länger und gesünder. In allen waren die Menschen isoliert und legten ähnliche Verhaltensweisen an den Tag. Sie aßen viel Gemüse und Soja, tranken wenig Alkohol, bewegten sich moderat und hatten ein hohes Maß an sozialen Kontakten und Familienleben. „Wir haben hier in der Tat enge Bindungen zueinander“, sagt Akihiro Ichikawa, der im Halekulani Hotel das Langlebigkeitsprogramm entwickelte, „Familie ist einer der Faktoren für Langlebigkeit.“

Meitetsu Yagi mit seiner Familie, Bild aus dem Dojo
Meitetsu Yagi mit seiner Familie, Bild aus dem Dojo

Zwei Stunden später im Meibukan (übersetzt: Faust des wahren Kriegers) Dojo, in der mit Parkett ausgelegten Trainingshalle. Auf diesem Boden lagen Legenden. An der Wand Ehrungen, eine Samurai Rüstung. Bilder. Meitetsu Yagi führt uns herum. Er zeigt uns Bilder und Zeitungsausschnitte, wir sehen Gruppenbilder in schwarzweiß, in Farbe, aus den Achtzigern, den Sechzigern. „Das ist mein Vater“, sagt er. „Das ist mein Vater.“ „Das ist mein Vater.“ Das japanische Wort Kizuna bedeute „die Verbindung zu Menschen.“ Yuimaru, bedeute „der Geist der Zusammenarbeit“, und Ichariba-chodee, bedeute, dass man Menschen wie Brüder behandelt, auch wenn man sie nur einmal trifft. Diese drei Begriffe tauchen immer wieder auf, wenn wir über den mentalen Aspekt des Karate sprechen. So hat Meitetsu einen Hombukai gegründet, eine Gruppe lebenslanger Schüler, die wie Tafelrundenritter die Traditionen des Goju-ryu bewahren, auch zwei aus Deutschland sind dabei. Am Ende gibt er uns eine Hausaufgabe mit auf den Weg. „Schreibt aus dem Gedächtnis auf, was Okinawa Karate bedeutet, innen und außen, vergleicht eure Notizen, und dann erzählt es.“ „Jeden Tag nur zwei Minuten stehen und atmen. Das reicht.“

(erschienen 2023 in der FAS)