Beinahe Alaska Leseprobe

Leseprobe

Eisbergwand mit Sonnen

Es wird

Es wird keinen Mord geben, keine Leichen, kein Monster, keinen Unfall, keine abgefrorenen Nasen oder Zehen. Es wird niemand schneeblind werden, keiner wird ertrinken oder festfrieren, sich das Bein brechen oder einen Anfall erleiden, obwohl ein gewisser Blutverlust durch gemeine Bisse von gefräßigen labradorianischen Bremsen zu beklagen sein wird. Niemand wird ein Walross oder einen Narwal sehen, und ein Eisbär wird sich nur in sehr großer Entfernung blicken lassen. Keiner wird die Aurora für das Totenleuchten der Geister halten. Es werden keine Schamanen singen, es wird kein Gold gefunden werden, kein Mammut wird aus dem Permafrost auftauen und auch kein Polarwurm. Es wird kein Mann und auch keine Frau über Bord gehen, es wird nicht knapp, nicht eng, nur kalt und gelegentlich ein bisschen böse. Die Abgründe bleiben in den Menschen. Man wird sie bloß spüren. Stattdessen wird es um das ganz normale Leben gehen, in dem man ein bisschen redet und ein bisschen lügt, in dem einem die Menschen fremd vorkommen, seltsam und hässlich, dann wieder freundlich und warm. Das Leben, das man als einsam empfindet, weil es das ist. Es wird eine Aussicht geben, eine Leere, in der alles entstehen kann – und nichts. Die Polarsonne wird leuchten, und man wird die trockene, sauerstoffarme Luft der Arktis atmen, in der alles überdeutlich zu sehen ist. Es wird keine monatelange Dunkelheit hereinbrechen, kein Wintersturm heulen, kein Gletscher wird bersten. Das Meer wird dem Land keine Küste abreißen, doch der Permafrost wird tauen, der Regen wird fallen, auf Moos, auf Gräber, auf verlassene Häuser an einem verlassenen Strand auf der größten unbewohnten Insel der Welt. Es wird lyrische Bäume und Gespenstertannen geben. Die ältesten Steine der Welt werden in Fjordwänden aufragen, hinter denen Schamanen (dann doch!) in die Geisterwelt entschweben. Es wird Inseln geben, auf denen Touristen in orangen Jacken auf den Toten herumtrampeln. Gierigen Nebel, der nur darauf wartet, dass man woandershin schaut. Elfen aus Glas, die in Fenstern hängen, mit Blick auf etwas Böses. Man wird lachen, wie um Ungeheuer zu vertreiben. Man wird essen und den Appetit verlieren. Es wird ignoriert werden, hinweggesehen, vermessen, beschwert und gefordert. Menschen werden schimpfen, quasseln, nerven, sie werden lächeln, verzeihen und wieder ausatmen. Sie werden aus dem Fenster sehen, in ihre Bücher – und aufs Meer. Sie werden mit einem Schiff fahren und aufs Meer schauen.

Eismitte

War das der Himmel? Ich schaute hinab auf eine gewaltige weiße Fläche. Es war ein Weiß, das ich so noch nie gesehen hatte. Es war unwirklich, hell, es leuchtete aus sich heraus und reichte bis zum Horizont, wo sich die Ebene wölbte, sodass ich die Erdkrümmung erkennen konnte. Ich griff zur Kamera, legte sie wieder weg, man konnte das nicht fotografieren oder filmen. Es war ein gänzlich blindes Weiß. Einsamkeit, dachte ich, vielleicht sah so die Einsamkeit aus.

Wir flogen über die Gletscher von Grönland, die größte zusammenhängende Eisfläche der Welt. Wenn sie schmolz, würde der Meeresspiegel um sechs Meter steigen, so gewaltig war die Eismasse, die auf dem grönländischen Kontinent saß wie eine Kugel Eis in einem sehr flachen, sehr weiten Becher. Die Geräusche im Flugzeug rückten in den Hintergrund, das Geschwätz der Menschen, das Brummen der Motoren. Dort unten war Alfred Wegener erfroren. Er hatte bewiesen, dass die Kontinente früher eine zusammenhängende Landmasse gewesen waren. 1930 war er von seiner Forschungsstation Eismitte aufgebrochen, weil die Vorräte nicht gereicht hätten. Unterwegs waren er und sein Assistent von den Winterstürmen überrascht worden. In letzter Zeit fühlte ich mich immer öfter wie Wegeners Urkontinent – als wäre ich zerbrochen und meine Teile drifteten nun langsam, aber unwiderruflich voneinander weg.

Ein Geräusch riss mich aus meinen Gedanken. Als ich wieder hinausschaute, sah ich im Flugzeugfenster winzige Rillen, als hätten die Wolken von außen mit spitzen Fingernägeln an die Scheibe gekratzt. Ich griff zum Skizzenbuch, doch ich konnte den Blick nicht von dem Weiß hinter den Kratzern lösen. Es leuchtete bis in die hinterletzte Ecke meines Kopfes und entblößte die Dinge, wie sie waren.

Da unten wartete keiner mehr. Ich hatte meine Eltern verloren, ich hatte mein Kind verloren, obwohl verloren das falsche Wort war, denn es klang, als hätte man etwas verbummelt oder verlegt, aus Schusseligkeit ist es einem aus der Tasche gefallen, durchs Netz oder durch ein Loch im Mantel. Verloren klingt, als hätte man beim Roulette auf die falsche Zahl gesetzt. Meine Eltern sind mir abhandengekommen. Das klang schon anders. Mein Kind ist mir nie geschehen. Auch das klang besser. Damit konnte man leben.

Meine Mutter starb vor einigen Jahren einen qualvollen Tod. Davor kamen mir andere Menschen abhanden, darunter ein Vater, eine große Liebe und mehrere Verwandte, die ich gerne als Erwachsene kennengelernt hätte, aber so darf man nicht denken. Man soll nach vorne sehen, die nächsten Schritte gehen, das Kreuz in den Wind drehen, damit der Sturm die alten Gedanken aus dem Kopf pustet, den Staub, den Moder, damit sich nichts festsetzen kann, so wie im Körper feststeckende Knoten irgendwann zu einem Geschwür werden können, das einen das Leben kostet. Man muss nach vorne schauen.

Mein Beruf gestattete es mir, dauernd nach vorne zu sehen. Ich sollte Bilder aus der Arktis mitbringen. Fotos, Skizzen, Zeichnungen, egal, Hauptsache, sie fingen die Stimmung ein. »Wie ist es da?«, hatte meine Verlegerin die Luft zwischen uns gefragt. »Was sieht man da? Wie fühlt sich das an?« Und so saß ich nun in dieser nach vorne schauenden Verfassung, einer klaren und rundum unverwandten, also anhanglosen Verfassung, an Bord eines Flugzeugs und flog über die Eiskappe Grönlands.

Ich hatte gelesen. Über die Eisdrift, den Eisblink und den magnetischen Nordpol. Über Schweröl und den Permafrost, über die Inuit und Nilas-Eis, über John Franklin und über die schwarz-weiße Labrador-Ente, die leider ausgestorben war, so wie der Große Alkvogel und der Dodo.

Ich hatte eingekauft. Warme Socken, eine dicke Jacke, Handschuhe, eine neue Mütze, ein neues, besseres Objektiv für meine alte Nikon, warme Unterhosen und noch mal dicke Socken, man konnte nie wissen.

Ich hatte mich verabschiedet. Meine Bekannten demonstrierten in Berlin gegen den Klimawandel. Ich würde ein Schiff besteigen, das eine Route fuhr, die überhaupt nur wegen der Erderwärmung langsam schiffbar wurde. Die Nordwestpassage.

Wir würden von der Südspitze Grönlands nach Norden fahren, bis zur Diskobucht, dann westwärts über den Atlantik und durch das arktische Labyrinth der kanadischen Küste bis nach Alaska. Die Reise sollte zweieinhalb Wochen dauern. Das Schiff war ein Passagierschiff, aber vergleichsweise klein, es passten nur einhundert Passagiere drauf. Die Reederei hatte diese Reise als Expeditionskreuzfahrt verkauft, das bedeutete: wenig Unterhaltung, kein Ballermanntourismus, dafür Vorträge, Landausflüge und große Panoramafenster. Das Schiff hatte sogar einen Hybridmotor und fuhr ohne Schweröl, doch es war immer noch – da hatten die Bekannten nicht unrecht – eine ökologische Sauerei. Sie waren aber nicht wegen meines CO2-Fußabdrucks schockiert, ein Thailandflug hätte sie kaltgelassen. Sie empörten sich, weil man in der Arktis aus nächster Nähe beobachten konnte, wie die Welt vor die Hunde ging. Weil die Arktis, der letzte unberührte Ort, bisher unzugänglich, unwirtlich und karg, nun in greifbarer Nähe war. Der letzte weiße Wal, am Haken.

Ich schaute nach vorn. Das Blau über dem Eis stand dem Weiß in seiner Klarheit in nichts nach.

Nasser Sack

Narsarsuaq, Grönland

»Willkommen in Nasser Sack«, hatte der Pilot bei der Landung gesagt, zumindest klang Narsarsuaq so aus seinem Mund. Einwohner: 102. Mit mir und den anderen Passagieren 202.

Ich ging hinter zwei Frauen, die sich angeregt unterhielten. Sie marschierten mit festem Schritt zwischen nassgrauen Felsen und silbergrau bewachsenen Hängen zum Hafen. Beide waren so gekleidet wie die Leute auf den Werbetafeln im Outdoor-Bekleidungsladen: knollenförmige Wanderschuhe, Rucksäcke, Windjacken und diese Hosen mit dem Reißverschluss, die sich lang oder kurz tragen ließen. Hinter mir schlenderte ein Paar, das sich auf Deutsch unterhielt. Der Himmel leuchtete in einem gepuderten Himmelblau.

Wenn man alleine reist, fällt man auf, weil man immer aussieht wie jemand, dem etwas fehlt. Ein Partner, eine Aufgabe, eine Unterhaltung. Aber vielleicht empfand ich das auch nur so. Vielleicht kümmerten sich die anderen Leute gar nicht um mich. Vielleicht war ich unsichtbar geworden. Eine alleinstehende Unsichtbarkeit.

Wieso überhaupt alleinstehend? Wieso nicht alleingehend oder alleinliegend oder alleinlaufend? Als stünde man die ganze Zeit herum, so alleine. Zu einem Paar würde ja auch keiner sagen: »Ach, Sie sind wohl zusammenstehend.« Eine alleinstehende Person ist eine statische Angelegenheit, ein Verharren, als würde sie darauf warten, dass etwas beginnt.

Die Einwohner von Nasser Sack waren ebenfalls unsichtbar, zumindest sah ich keinen auf der Straße. Vor dunkelroten Holzhäusern, die auf Stelzen in den Fels gebaut waren, parkten Schneemobile und Autos. Es gab keine Gärten, nur Stein in jeder Form: Geröll, Kiesel, Felsen, Sand. Was arbeiteten die Leute hier? Gab es einen Supermarkt? Gab es die Einwohner überhaupt?

Ich könnte hierbleiben. Ich könnte eines dieser dunkelroten Häuser mieten, eins mit Blick auf das türkismatte, milchige Wasser, umgeben von hohen Bergen – in direkter Nachbarschaft zur Eiskappe, die darauf wartete, dass sie verschwand. Mein Verschwinden würden die anderen nicht bemerken. Ich könnte in Zukunft in einem dieser Häuser sitzen, Tee trinken und aufs Wasser schauen. Ab und zu würden Passagiere an meinem Fenster vorbeilaufen, auf dem Weg zu ihrem Schiff, sie würden miteinander plaudern, sich umschauen, vielleicht würde einer von ihnen mein Haus sehen und denken: Was wäre das schön, wenn ich da wohnen könnte. Vor mir sah ich die anderen Passagiere, Männer mit Rucksäcken, weißen Haaren, Frauen in Anoraks, wenigstens bin ich jung, dachte ich, wenigstens bin ich nicht wie die. Aber war ich das, jung? War ich nicht wie die?

Horizont von Arezu Weitholz
Illustrationen: Arezu Weitholz