Was das kostet!


erschienen in der FAS am 17. Januar 2021: Warum das Warten im Urlaub zu einem lukrativen Geschäft geworden ist – für alle außer den Reisenden

Wie so vieles waren auch Ferien früher herrlich einfach. Man buchte eine Reise, gab vor Ort vielleicht ein bisschen mehr für den Kaffee aus als sonst, und wenn man mal warten musste, auf den Bus in einem Kaff in Mexiko, oder auf das Boot an einem griechischen Strand, war das pitturesk, es war authentisch, zumindest hat es einen nicht ruiniert. Heute jedoch scheint jeder Abschnitt der Reise darauf angelegt zu sein, den Urlauber von Dingen abzuhalten, die er tun will: abfliegen, ankommen, auspacken, sich hinlegen, Sonnenbaden, Rutschen, am Buffet zum Rührei vorrücken, aus dem Fenster schauen – es sei denn, er zahlt.

Wohlhabende Urlauber erkaufen sich das schnelle Vorwärtskommen ganz selbstverständlich. Für den höheren Preis fahren sie früher los, werden abgeholt, sind bei Ankunft bereits eingecheckt, in der Lounge bekommen sie alles, was sie brauchen (Trinken, Essen, Wifi, WC und Ruhe) umsonst, und genießen vor Ort bessere Plätze, ob am Strand, in der Oper oder im Restaurant. Inzwischen darf aber auch das Volk zahlen, wenn es nicht warten will. Vermeintlich um den Gästen das Anstehen zu ersparen, in Wahrheit aber, um sie kostenpflichtig erneut zu verladen, bieten Airlines seit Jahren sehr erfolgreich so genanntes Priority Boarding an. Priority Boarding bedeutet, man darf sich in der Schlange anstellen, die als erste an Bord geht, was natürlich dazu führt, dass es von fast allen dazugebucht wird, weil ja der Flug so günstig war. Diese dann sehr lange Schlange bewegt sich zwar als erstes, bleibt aber aus Platzmangel stehen, bewegt sich erneut, bleibt wieder stehen, und die Frage, wer am Ende zuerst einsteigt, hängt oft von der erratischen Absperrband-Politik der jeweiligen Flughafenmitarbeiter ab.

Zeit ist eine Illusion (Illustration Arezu Weitholz)

Niemand wartet gern, weil es kaum noch einer kann. In unserer Gesellschaft ist Trägheit eine Todsünde, tote Zeit kostet, und nicht umsonst sagt man: „Nur Fotografen und Idioten warten.“ Doch auf Reisen gilt: Wer nicht warten kann, ist unerzogen. Geduld ist eine der ersten Reisetugenden. Nervöses Zappeln oder Hin- und Herlaufen bedeutet: man hat sich nicht im Griff. Außerdem wirkt es ansteckend. Steht einer auf und stellt sich an, steht der nächste auf, dann der nächste, egal, ob der Abflug noch mehrere Stunden hin ist oder nicht. Keiner will der letzte sein – abgesehen von jenen, die aus Prinzip sitzenbleiben, um den anderen zu zeigen, dass sie über den Dingen stehen.

Um das Warten zu bewältigen, halten sich viele am Handy fest und sehen Filme oder lassen stundenlang bunte Diamantquadrate in bunte, rechteckige Löcher fallen.

Betrachtet man diese Leute, drängt sich die Frage auf: Wie haben wir eigentlich früher gewartet? Haben alle gelesen? Gab es mehr Magazine? Hatten die Leute was zum Handarbeiten mit?  Wurde mehr geflirtet? In jedem Fall konnte man in Frieden rumsitzen, ohne dafür extra zu bezahlen. Nur wo sind sie hin, die weiten Besucherterrassen, die sanft beleuchteten Lounges, in denen man einfach nur war? In Bayern hat der Landesbund für Vogelschutz aus Ermangelung von Sitzgelegenheiten für Wildvögel Ansitzstangen an Feldränder gestellt. Doch so gut wie der Mäusebussard oder die Wiesenweihe haben es Flughafenbesucher schon lange nicht mehr. „Es kann kein Zufall sein, dass keine Sprache der Erde jemals den Ausdruck „so schön wie ein Flughafen“ hervorgebracht hat“, schrieb der Autor Douglas Adams bereits 1988 in seinem Krimi „Der lange dunkle Fünfuhrtee der Seele“. Damals schloss er, Flughafen dienten nur einem Zweck, nämlich Reisende von ihrem Gepäck zu trennen. Heute müsste man ergänzen: und von ihrem Geld.

Stunden vor Abflug bereits angetreten, zwingt die moderne Flughafenarchitektur übermüdete, gelangweilte Menschen zum Flanieren, weil es nicht genug Sitzmöbel gibt. Und da trotten sie dann durch die Verkaufsflächen mit unnützem Zeug, widerstehen der Riesentoblerone, dem bunten Lidschatten-Set, nur um dann vor einer Modemarke wie etwa Bally in die Knie zu gehen. Es wäre nicht weit hergeholt, wenn man den Erfolg der Kosmetikmarke Clinique der trockenen Flughafenluft und den des kosmetischen Aufhellers Touche Èclat von Yves Saint Laurent dem grellen Flughafenlicht zuschreiben würde. Manche Menschen, die Bücher nur noch kennen, weil sie dauernd an Flughäfen und auf Bahnhöfen warten müssen, denken ja auch, der einzige deutsche Schriftsteller heißt Sebastian Fitzek. Andere wiederum erstehen den zehnten Ladestecker, das fünfte Paar Kopfhörer oder schon wieder eine dieser „Flughafenpaschminas“, weil die dicke Jacke ist im großen Koffer. Oft sind diese Warmhaltetücher aus Kaschmir und in irgendeinem Rosa oder Braunton, der dann zu Hause zu nichts passt. Doch egal, ob man die Monsterpackung M&M oder eine luftgetrocknete Salami kauft: Warten kostet. Im schlimmsten Fall auch noch die gute Figur, weil man dauernd Sachen isst, auf die man Appetit hat, aber gar keinen Hunger. Geschäftsreisende erkennen Touristen daran, denn Profis essen (wenn überhaupt) in der Lounge, und gehen sofort nach der Landung in Singapur joggen. Gelegenheitsreisende kommt die gesunde Ernährung teuer zu stehen, denn halbwegs erschwinglich sind nur Nahrungsmittel aus Fett, Zucker und Weizen, wobei die Butterbrezel für 5 Euro am Münchner Flughafen für Münchner Verhältnisse ja günstig ist.

Man hat sich so an das Wegkonsumieren des Wartens gewöhnt, dass man ganz irritiert ist, wenn man es mal nicht kann. Vor zwei Jahren warteten etwa zweihundert Reisende am Flughafen in Cambridge Bay im fernen Norden Kanadas in der Abflughalle. Sie warteten, dass ein Tankwagen kommen würde, um das Flugzeug zu betanken, das auf dem Rollfeld ebenfalls wartete. Es gab keinen Schalter, keine Mitarbeiter, nur zwanzig Sitzschalen, und der einzige Kiosk hatte zu. Als der nach etwa zwei Stunden öffnete, stürzten sich die Menschen auf den armen Verkäufer, der gar nicht wusste, wie ihm geschah.

Doch das ist leider nur eine Erinnerung. Momentan verharrt die Welt im Reiseverzicht. Aufgrund des Nicht-reisen-könnens haben viele Menschen ihr Urlaubsbudget bisher gar nicht ausgegeben. Trendforscher behaupten nun, in der kommenden Saison würde die Nachfrage nach hochpreisigen Luxusreisen steigen. Nach „Wenn schon denn schon“-Traumreisen, nach exklusiven Privatvillen, fernab von Masse und Trampelpfad, gerne auch ein bisschen teurer, Hauptsache ohne Schlange stehen und lange Wartezeiten. Denn wer will seine Ferien mit Warten verbringen, wenn er schon so lange darauf gewartet hat, überhaupt wieder reisen zu dürfen?

In seinem wunderschönen Buch „Sum“ entwirft der Neurowissenschaftler David Eagleman vierzig Variationen des Jenseits. In einer erlebt man das Leben nochmal von vorn – aber aufgeräumt. Nachdem man dreißig Jahre geschlafen hat, sucht man fünfzehn Monate nach Dingen, die man verlegt hat, und steht dann achtzehn Monate in irgendwelchen Schlangen. Sechs Wochen wartet man an Ampeln auf Grün, zwei Jahre langweilt man sich, weil man aus Busfenstern starrt oder an Flughafenterminals warten muss. Ein schwacher Trost: Man grübelt vier Wochen lang, ob es nicht etwas Besseres gäbe, was man mit seiner Zeit anfangen könne.