Der Zurückkomm-Blick


erschienen in der FAS, 2019

Man soll ja nicht zurückschauen, sondern nach vorn, heisst es immer so schön in Büchern, in Liedern oder in aktuellen Kinoblockbustern. Doch was ist, wenn das nicht geht? Wenn man aus der Ferne zurückkehrt, und irgendwer (oder irgend etwas) hat einem die Sinne verstellt? Die heimatlichen Straßen wirken plötzlich verdreckt, jemand hat einem die Wohnung geschrumpft, und wem gehören überhaupt diese vielen Klamotten? 

Das Phänomen des Reisens verändert alle Sinnesorgane, vor allem das Gehirn, das sich nach einer langen Abwesenheit erst mühsam und oft widerwillig im alten Leben justiert. Viele Heimkommende müssen sich daher dauernd diesen dämlichen Satz: „Komm doch erstmal an“ anhören, dabei sollte man sie in Ruhe lassen. Denn es gibt nichts Schöneres, als diese zarte, zerbrechliche Phase der Rückkehr, in der man mit neuen Augen auf das Alte schaut, und nichts ist mehr wie es war. 

Letzte Woche kehrten wir aus der Arktis zurück nach Berlin. Gut, mag einer sagen, die Arktis ist so weit weg, so leer, und die Luft ist so trocken und klar, da ist es auch kein Wunder, wenn ihr ein bisschen neben der Spur zurückkehrt. Stimmt: die Ferne verändert alles.

Wir verließen den Flughafen, und die berühmte Berliner Luft – sie stank. Nach Unrat, Abgasen und nach irgendwas, das wir so noch nie wahrgenommen hatten. Auf dem Weg nach Hause sahen wir Menschen an den Straßen stehen, die wirkten, als würden sie unter etwas leiden. Ihre Mienen umflorte ein Schleier aus Kummer und Unzufriedenheit. Niemand lachte. Draussen lag ein ständiges Brummen in der Luft, als würde ein unsichtbarer Motor die Stadt betreiben. In öffentlichen Verkehrsmitteln hörten wir Menschen miteinander reden, doch wir verstanden sie nicht.

Unsere Ohren hatten die flüchtige Fähigkeit des Weghörens entwickelt (eine segensreiche Gabe, die man eigentlich nur im Ausland besitzt). Der Himmel über der Stadt leuchtete in einem wundervollen Blau. Das viele Grün der Bäume war überwältigend. Wir erfuhren, was wir verpasst hatten, hörten Nachrichten, Beschwerden, doch das Gehirn dachte stets: Ach, eigentlich geht mich das alles ja nichts an. Wir wollten nicht reden. Wir waren entspannt. Wir schauten auf unsere alte Welt und waren genügsam, zufrieden, gelassen. Wenn jemand fragte: Wie war es denn denn da, dachten wir leise: Och, fahr‘ doch selber hin. 

Dummerweise hält der „Zurückkomm-Blick“ nicht an. Er verfliegt, schneller als ein Gefühl. Man kann ihn ein bisschen ausdehnen, etwa möglichst lang die Post nicht öffnen. Gesprächen aus dem Weg gehen. Oder sich vorher Phrasen überlegen, mit denen man sie ins Oberflächliche leitet. Doch früher oder später ist man dran: Man muss den Koffer auspacken, weil man nichts mehr anzuziehen hat. Man muss zur Arbeit, in den Supermarkt, einkaufen, und irgendwann, wenn man das erste Mal an einer roten Ampel steht und wartet und von irgendwas genervt ist, oder es eilig hat, oder die Hose kneift, oder einem der Himmel graut, dann weiss man: Man muss wieder wegfahren – um zurückkommen zu können.