Am Ende der Straße


erschienen in der FAS, 2019: Die Eeyou Istchee Region ist größer als Deutschland, doch nur 18.000 Menschen leben dort. Nun wird es Zeit, dass auch Touristen kommen, finden die Cree. Eine Reise an die James Bay.

Nach der dritten Landung ahnt man, warum die Cree diese Route den „Milkrun“ nennen. Die Flugzeuge der Air Creebec landen tatsächlich an beinahe jeder Milchkanne. Jetzt gerade in Waskaganish, das „Wäss Kägga Nisch“ ausgesprochen wird. Das ist auch eine Besonderheit an dieser Region: Man muss lernen, wie man ausspricht, bevor man fragen kann, wo man hinwill. Wir wollen nordwärts, die ehemalige Pelzhändlerroute entlang durch das Eyyou Istchee (Ey Ju Is Tschieh) Gebiet, bis die Straße nicht mehr weitergeht.

Freundlichste Mitarbeiter und Passagiere fliegen Air Creebec.

Victoria wartet neben einem Monstrum von Auto, einem Ford. Die Kühlerhaube reicht ihr bis zur Schulter. Viele fahren hier solche Wagen. Die James Bay Road ist zwar eine Art Highway, doch es gibt auf 620 Kilometern keinen Radioempfang, nur eine Tankstelle und allerhand verkehrsblinde Karibu und ungeteerte Schotterpisten. „Dies ist keine Kinderreise“, warnte ein Reiseführer online. „Es gibt keine Spaßparks. Sie fahren mit einem Auto voller gelangweilter und jammeriger Gören ans Ende der Welt.“

Zwei Damen auf Harleys nach dem Überholvorgang

Eine Stunde später sitzen wir am Rupert River, der hier breit und gemächlich in die James Bay mündet. Der Tourismusbeauftragte, der uns Waskaganish zeigen sollte, ist nicht da. Seine Stellvertreterin auch nicht. Victoria telefoniert, und wir holen kurzerhand ihren Cousin Wilfred ab. Es gibt immer einen Plan B, sagt sie, alles ist im Fluss – auch eine der Philosophien der Cree. Wilfred erzählt uns, dass hier knapp 1900 Menschen wohnen. Er baut im Auftrag der Gemeinschaft Häuser, insgesamt 30 sollen noch dieses Jahr entstehen. Nur die Teerstraßen sind noch nicht fertig, deswegen staubt es auch so. Wir halten an einer vom Wetter mitgenommenen, grauen Hütte. Das sei Rupert House, der erste Posten der Hudson Bay Company. Hier meuterte 1611 die Besatzung von Henry Hudson, weil sie vom eisigen Winter und der glücklosen Suche nach der Nordwestpassage die Nase voll hatte. Wir fahren durch triste Straßen. Man sieht kaum Menschen. Die Häuser sind schmucklos, die Straßen verwaist.

Kinder spielen am Rupert River
Der gleiche Fluss, weiter im Inland.

Doch die Sonne scheint, und es ist warm für August, beinahe 30 Grad. Was würden die Cree an so einem Sonntagnachmittag tun? Blaubeeren pflücken. Wo? Bei Kilometer 25. So erklärt man hier den Weg, sagt Victoria. Bei Kilometer 30 liegt ein Reifen. Bei Kilometer 10 schläft ein Bär. Das für seine Speisen berühmte (und einzige) Restaurant des Highways heißt sogar so: Relais Routier du Km 381. Nach einer halben Stunde Schotterpiste stehen wir in einem Feld reifer, dunkelblauer Beeren, das dummerweise aber von blutrünstigen Moskitos bewohnt wird. Weil es in der Nähe der Müllkippe liegt, beeilen wir uns mit dem Pflücken, denn da wiederum treiben sich gerade angeblich ein paar Schwarzbären herum, die ebenfalls wild nach Blaubeeren sein können.

Blaubeeren bei Waskaganish

Auf dem Rückweg halten wir an einem Sommercamp für Touristen. Hier macht gerade die Autorin Josee Soum aus Ottawa mit ihrem Mann und den zwei Kindern Urlaub. Sie wohnen in einer rustikalen Holzhütte, kochen wie die Cree in einem Tipi und schlafen nachts zum Rauschen des Rupert River. Spaßpark? Brauchen sie nicht. Sie würden angeln, Karten spielen, wandern, Feuer machen. Oder bei älteren Cree vorbeischauen und etwas lernen. Eine Stunde begleiten wir sie und besuchen eine der Dorfältesten, Cylm Weistsche. Sie ist 84, lebt in einem bescheidenen Haus am Fluss und gerbt in ihrer kleinen Küche die Felle von Karibus. Sie beugt sich tief über Plastikwannen, arbeitet mit den Händen. Es ist eine mühevolle, langwierige Arbeit.

Cylm Weistsche und Tim Whiskeychan

Am Abend hat der Tourismusbeauftragte Tim Whiskeychan Zeit für uns. Er ist eigentlich ein bekannter Künstler, er hat eine der kanadischen Zweidollarmünzen gestaltet. Jetzt tunkt er eine Feder in Acrylfarbe. „Kennt Ihr Bob Ross?“ Wir nicken. Dann malt er. Nette Bäume, kahle Bäume, nette Gräser, den Himmel, die Sonne. Die Farben erscheinen übertrieben, doch in den folgenden Tagen werden wir erleben, dass die Sonne und die Wolken und die Bucht und die Steine tatsächlich so knallrot, zartrosa, eisblau, tiefschwarz aussehen können. Wir sprechen über die Kultur der Cree, hören Musik aus den Vierziger Jahren und sollen ihm glauben, dass wenn man Neugeborene mit Froschurin einreibt, sie ein Leben lang gegen Insektenstiche immun werden. Wir lernen, dass Torfmoos ein Ersatz für Windeln ist. Und dass es „Tallymen“ gibt, die sich um die Jagdgebiete kümmern, die hier Traplines heissen und unregelmässig geformt sind, damit jede Familie ein bisschen Berg, Tal und Wasser zum Jagen hat.

Tim Whiskeychan in seinem Atelier
Stopschild

Am nächsten Tag, nach vielen Stunden Autofahrt, sitzen wir in Wemindji in einem Tipi. Es gehört Stacey Matches und steht hinter seinem Haus im Garten. Über einem Feuer kocht Wasser für Labrador Tee. Wemindji ist eine junge Gemeinde, erfahren wir. 40 Prozent der 1600 Einwohner sind unter 19. Die meisten wohnen in modernen, einstöckigen Häusern, nur 10 Prozent leben noch in der Wildnis. Dort ist Stacey bei seinen Großeltern aufgewachsen. Er kennt die Bräuche, kann sie lehren, hält Vorträge, und er beherrscht auch die feine Kunst der Schneeschuhherstellung. Cree seien ausgezeichnete Handwerker, sagt er. Seine Frau zeigt uns die kunstvoll gearbeiteten Schuhe. Wir lernen wie man Mokkassins anhand des Fellverlaufes unterscheidet, dass man sie mit Earl Grey Tee wieder auffrischt. Doch von der Pelzjagd lebe hier niemand mehr. „Zuletzt habe ich für acht Biberfelle und einen Marder 80 Dollar bekommen,“ sagt Stacey. Wann denn die Preise so gesunken seien? „Sie sind nie gestiegen“, antwortet er. Jemand bietet uns traditionell zubereitetes Essen an, Karibu-Stew. Wir lernen, dass man sich im Tipi im Uhrzeigersinn bewegt, so wie die Sonne wandert. Dass Staceys jüngstes Kind gerade seine „Walking out“ Zeremonie hatte, und dass die Füße eines Babys im ersten Lebensjahr nicht den Boden berühren.

Stacey Matches Tipi
Stacey (mitte) ist einer, der das Handwerk und die Traditionen der Cree noch von seinen Großeltern kennt.

Auf der anderen Seite des Ortes. Im Haus des Grand Councils sind die Meetings in vollem Gange. Über alles wird in den verschiedenen Instanzen des Rates gesprochen, denn allen gehört alles. „Wir hängen gemeinsam drin“, sagt Stephanie Georgekish, die mit ihrem Mann Angus im Gemeindezentrum wartet – auf ein Meeting. Sie führt das Erlebnis-Camp Shammy Adventures. Bisher waren aber nur Marketing Leute da, sagt sie. Viele schreckt die lange Anreise. Vom Highway sind es 130 km auf Schotterpiste, dann eine Stunde mit dem Boot und nochmal vier Kilometer mit dem Quadbike. Dafür ist dort aber alles so, wie es sich die Leute vorstellen, wenn sie den Begriff „indigenen Tourismus“ hören. Indigen? Victoria zuckt höflich mit den Achseln. Sie sage auch lieber „First Nations“.

Ein älterer Herr kommt die Treppe hinunter. Er ist einer der frisch ausgebildeten Kapitäne der „Wiinipaakw Tours“, einem Gemeinschaftsprojekt der drei Gemeinden Waskaganish, Wemindji und Chisasibi. Viele von ihnen sind Rentner. Stanley und Ernie nehmen uns wenig später auf ihrem Boot mit raus, in die Bay, zwischen die Inseln, auf denen es angeblich Gold gibt. Wind weht uns ins Gesicht. Auf einer Insel steht ein einsames Karibou und schaut uns hinterher. Stanley warnt uns, nur nicht auf Hope Island zu zeigen, weil sonst das Wetter umschlägt. In Eeyou Istchee gibt es einige solcher „unzeigbarer“ Orte. Als wir spätnachts ins Hotel zurückkehren, ist das Restaurant bereits geschlossen. Victoria erzählt, dass es eine Facebook-Gruppe gibt, in der selbstgekochtes Essen zum Verkauf angeboten wird. Doch wir sind müde und fallen ins Bett. Um Mitternacht klopft es: Schnell, steht auf. Die Aurora ist zu sehen. Nur raus dürft ihr nicht. Warum nicht? Es laufen Bären herum. Und Wölfe.

Da draussen ist die Aurora. Und Wölfe. Und Bären.

Am nächsten Tag geht es weiter nordwärts. Die Straße scheint endlos. Die weiten Wälder ebenfalls. Wir sehen Strauchkiefern, Schwarzfichten, Balsamtannen, Tamaracks. Ab und zu ist der Baumbestand verbrannt. Als wir an Kilometer 470 vorbeifahren, schauen wir angestrengt ins Grün. Angeblich wurden hier die Tall People gesehen. Manche nennen sie Bigfoot oder Atush, den Bewahrer des Waldes.

Die Route de la Baie James. Wer hier fährt, meint die Sache mit dem Road Trip ernst.

In dieser Region plante der Energieversorger Hydro Quebec Anfang der Siebziger eines der größten Wasserkraftwerke der Welt. Nach heftigem Widerstand der Cree kam es 1975 zu einem Abkommen, dem sich auch die Inuit und die Nascaupi anschlossen. Die Selbstverwaltung der Region wurde beschlossen, und auch der Aufbau des Cree Health Boards, dem größten Arbeitgeber der Region. Es gab finanzielle Entschädigungen, und die Landrechte der First Nations wurden anerkannt. Sogar der James Bay Highway, auf dem wir fahren, wurde eigentlich nur gebaut, damit die Maschinen nach Norden transportiert werden konnten. Beliebt ist Hydro Quebec trotzdem nicht.

Die „Treppe des Riesen“ des Robert Bourassa Wasserkraftwerks. Nicht zu sehen: das größte unterirdische, hydroelektrische Elektrizitätswerk der Welt.

„Wir liefern Strom für die Amerikaner“, sagt Carrie von der Trappers Association nicht ohne Zynismus. Heilige Grabstellen wurden überflutet, die Migrationsrouten der Tiere zerstört. Wegen des erhöhten Quecksilbergehaltes konnte ein paar Jahre kein Fisch mehr verzehrt werden, der Rupert River fror nicht mehr zu, vom Wasserstand ganz zu schweigen. 2002 wurde aufgrund des Bedarfes an weiteren Staudämmen in einem zweiten Abkommen dem Großen Rat der Cree Beteiligungen und zusätzliche 3,5 Milliarden, verteilt auf die nächsten 50 Jahre zugesprochen.

Zwei frischgebackene Kapitäne fahren uns raus in die Bucht.
Auf einige Inseln vor Wemindji darf man nicht zeigen.
Was das Karibu da sucht, und wie es dort hingekommen ist, bleibt schleierhaft.

Den Cree auf der gegenüberliegenden Seite der James Bay geht es schlechter. Bei ihnen wollte niemand ein Kraftwerk bauen, sie hatten keinen so charismatischen Anführer wie Billy Diamond, der sie mobilisierte. In ihren Gemeinden sieht man deutlich die Spätfolgen des Residential School-Systems, jener jahrzehntelangen Zwangsumerziehung und des Mißbrauches der First Nations. 2016 machte der Ort Attawapiskat wegen des Freitods einer Dreizehnjährigen Schlagzeilen. Aber auch in Eeyou Istchee befassen sich von zwanzig Flyern in Gemeindezentren oder Krankenhäusern neunzehn mit Kindern, Müttern, und Selbsthilfe-Projekten. Es gibt Arbeitsgruppen, Gemeindeaktionen, und es wird gebaut, was das Zeug hält.

Das ist ein Wegweiser neben meinem Gesicht.

Am Abend sind wir in Chisasibi. Die Auberge ist lila beleuchtet. Bagger parken auf dem Feld daneben. „Nächstes Jahr kommt endlich der Rasen, ich habe echt keine Lust mehr auf den Sand“, sagt der Manager. Eröffnet hat er 2016, damals stand hier noch kein anderes Haus. 1981 war die Gemeinde wegen des Staudammbaus samt 200 Häusern und einer Kirche aufs Festland umgezogen worden, die Kirche war auf Kufen über den zugefrorenen Fluss gebracht worden. Heute leben hier fast drei Mal so viele Menschen, etwa 5000. Im Museum gibt es einen Glaskasten mit einer Miniaturausgabe der ursprünglichen Siedlung. Acht Millionen Dollar wurden bisher in den Tourismus investiert, den größten Teil in das neue Hotel am anderen Ende des Ortes. „Wir bräuchten etwa 5000 Touristen pro Jahr. Momentan können wir nur wenige versorgen. Vieles geht langsam“, sagt Pahren Tangye, der Wirtschaftsbeauftragte des Ortes. Es gäbe Monate, in denen man nicht hierherreisen könne, weil die Cree dann jagen. Im August beißen die Bremsen, im Januar ist es klirrend kalt. Doch welcher Tourist will so weit fahren, nur um dann im Zimmer bleiben zu müssen, weil gerade ein Blizzard tobt, jemand auf Enten schießt oder ein Rudel Wölfe die Aurora anheult? „Wir brauchen wenige, wohlhabende Touristen“, sagt Pahren. Im neuen Restaurant soll es auch eine Sondergenehmigung für den Ausschank von Alkohol geben, so wie in Radisson, der Siedlung für die Hydro Quebec Mitarbeiter weiter nördlich.

In der vermutlich einzigen Kirche der Welt, die jemals Schlittschuh gelaufen ist.

Im Mitschiwapp, der wie ein Tipi geformten Gemeindehalle, treffen sich die Ältesten zum wöchentlichen Handwerken und zum Erzählen. Einer macht Schneeschuhe, ein anderer einen Holzlöffel. Eddie ist 78 und arbeitet an einem Paddel. Miteinander sprechen sie Deep Cree, das kaum noch einer versteht. Wir berichten, dass wir in den Gemeinden nur wenig Tradititonelles gesehen haben. Eddie sagt, die Prophezeiung seiner Großeltern sei wahr geworden. Die Cree würden leben wie Könige. Aber sie würden ihre Kraft und ihre Gesundheit verlieren. Die Zukunft der kommenden Generation sei eine Frage Bildung, sagt er. Seit neuem interesssieren sich vor allem die jungen Leute für die alten Wege. Nicht wegen der Touristen. Sie trinken dann nicht. Sie spielen dann nicht.

Meine großartige Begleitung Victoria Crowe (links) mit ihrem großartigen Ford.

Einer von ihnen ist David Kawapit. Er sitzt in der Abflughalle von Chisasibi. Als 17jähriger marschierte er mit fünf Freunden 1600 Kilometer auf Schneeschuhen nach Ottawa, um die Protestbewegung „Idle No More“ zu unterstützen. Sie wurden von einem der Ältesten begleitet, der nach der Reise starb, und den sie den „weißen Zauberer“ nannten. Es war vierzig Grad kalt, doch immer mehr Menschen schlossen sich ihnen an, erzählt Victoria, auch ihr Sohn Colin. In der Ferne hören wir ein Brummen. Der Milkrun taucht am Himmel auf. Viel zu früh.

Wo die Straße endet. Sonnenuntergang in der Nähe von Chisasibi.

Der Weg nach Eeyou Istchee

Anreise: Mit Air Canada nach Montreal. Von Montreal mit Air Creebec nach Waskaganish für etwa 700 Euro; buchbar über www.aircreebec.com oder mit einem Reisepaket bei Voyages Eeyou Istchee Baie James. Www.escapelikeneverbefore.com

Unterkunft: Die Kanio Lodge in Waskaganish ist ein einfaches Hotel mit Blick auf die Bay. Das Maquata Inn in Wemindji liegt zwischen dem Day Care Centre für Senioren und der Bucht. Liebevoll dekorierte Zimmer. Die Auberge Maanitaaukimikw mit Blick aufs Wasser ist eine schicke, gemütliche, moderne Alternative zum neu gebauten Waastooskuun Hotel. Einziger Nachteil: nur ein Zimmer verfügt über ein en suite Bad. Alle Doppelzimmer ab/um 100 Euro aufwärts.

Informationen: Aktuelles, Buchungen und Anfragen über die Region unter www.escapelikeneverbefore.com. Das Reservat ist trocken; man trinkt dort keinen Alkohol. Auf dem Weg nach Norden halten viele am Relais Routier du Km 381. Fabelhafte Cheeseburger und guten, selbstgebackenen Kuchen. (Km 381, rte de la Baie-James, Eeyou Istchee Baie-James, Québec, Canada, J0Y 2X0); Wissenswertes über die Route: www.jamesbayroad.com, interessant sind auch die verschiedenen Facebookgruppen der Gemeinden, die sich über aktuelle Essensangebote, das Wetter oder Wölfe, Bären und Bigfoot austauschen.