Die Ferne


erschienen in der FAS, 2019:
Eine Distanz ist gemeinhin der Abstand zwischen einem Punkt und einem anderen, weswegen Menschen, die einem zu nah auf die Pelle rücken, gern eine gewisse Distanzlosigkeit vorgeworfen wird. Manchmal ist die Distanz aber auch etwas Großes und beschreibt die unerreichbare Nähe der Ferne. Für die Concorde wurde einst damit geworben, wie rasant sie die Distanz zwischen Paris und New York zurücklegen konnte. Heute ködern Fluggesellschaften Reisende mit einer größeren Distanz zum Vordersitz und drehen ihnen teure Upgrades für mehr Beinfreiheit an. Es scheint, die Distanzen sind kürzer geworden. Und die Welt ein großes Stück kleiner.

Neulich betrachtete ich ein Urlaubsfoto meiner Eltern aus den Fünfziger Jahren. Es war eins dieser kleinen Schwarzweissbilder, die mit dem weißen, gezackten Rand. Auf dem Foto sah man ein gewaltiges Gebirge, möglicherweise waren das die Alpen; meine Eltern liebten Italien. Vor den Bergen sah man Hügel, Wälder, eine schmale Straße, an deren Rand ein kleiner VW Käfer parkte, und neben dem Auto standen zwei winzige Figuren, deren Gesicht man kaum erkennen konnte. Es war ein Beweisfoto, das sagte: Ja, dieses Italien gibt es wirklich. Dort, wo die Zitronenbäume blühen, hinter schneebedeckten Bergen, wo sich Straßen durch grüne Wälder winden, dieses Land gibt es, und wir waren da.

Solche Bilder werden heute nicht mehr oft gemacht. Die Ferne ist zur Nebensache verkommen. Reisefotos heißen Selfies. Auf ihnen sieht man nicht mehr viel von der Welt, nur große Augen, wahlweise mit Sonnenbrille drauf, Nase, Mund, manchmal auch ein Kleidungsstück. Oder sie zeigen Fleischberge, Pommesschluchten, Rukolawälder – es sind so nahe Nahaufnahmen, als wäre der Fotograf über Nacht wie Gulliver geschrumpft.

Ob die Ferne uns abhanden gekommen ist, weil das Fliegen so günstig ist, und jeder Heini längst überall landen kann, oder ob es an den sogenannten Posts liegt, darüber kann man streiten. Längst richten die Leute ihre Hotels nicht mehr so ein, dass sich der Gast in ihnen wohlfühlt, sondern so, dass er sich möglichst oft vor verschiedenen Hintergründen fotografieren kann. Denn das Wichtige an einem Reisefoto ist nicht mehr die Entdeckung der Welt, sondern die Inszenierung des Menschen in ihr. Es sind Bilder einer Generation, die um ihre Existenz bangt. Die sich dauernd beweisen muss: Es gibt mich noch. Ich bin noch da. Wo? Ist egal. Schaut mich an. Und so, wie die Nachkriegsgeneration meiner Eltern mal davon geträumt hat, Italien zu finden, träumen die Leute heute von etwas ebenso Fernem: von sich.