erschienen in der FAS, 2017: Auf den Spuren der Wikinger fahren Kreuzfahrttouristen nach Westen und entdecken die große, weite Welt nochmal – in vielen Kleinigkeiten.
„Da isser!“ Wolken werfen wilde Schatten auf die grau, rosa, grün und braun schimmernden Berge, deren scharfe Konturen im arktischen Sonnenlicht leuchten. Die Entdecker starren in eine Felswand. Sie umklammern Objektive und Ferngläser im Wert gebrauchter Kleinwagen. Der Wind zerrt an wasserdichten Hosenbeinen und atmungsaktiven Kapuzen. Ihre Lippen sind trocken, die Sonne blendet. „Wo denn?“, fragt einer. „Da, hinter dem Stein rechts hoch, einen Daumen breit nach links.“ An die sechzig Augenpaare schauen konzentriert in den Milliarden Jahre alten Stein des Saglek Fjords. Sie suchen nach drei kleinen Punkten: einer Schwarzbärin mit ihren zwei Jungen.

In langsamster Zeitlupe schiebt sich die MS Spitsbergen durch den Fjord. Die Entdecker lächeln. Sie sind seit drei Tagen auf dieser Jungfernfahrt-Route: von der Südküste Grönlands bis hierher an den nördlichsten Zipfel Labradors, ab morgen dann die Küste hinab bis nach Neufundland, so wie einst Leif, der Glückliche. Oder Bjarni Herjólfsson, je nachdem welcher Island-Saga man folgen will. Das einst als Autofähre gebaute Expeditionskreuzfahrtschiff ist vergleichsweise klein, nur einhundert Meter lang, deswegen kommt sie auch in Gewässer, die von anderen Schiffen links liegen gelassen werden. Zudem ist das hier keine klassische Amüsier-Kreuzfahrt. Es gibt keine crazy Pool-Landschaft, keine Bums-Ballermann-Bar und auch keine lustigen Wettwurstessen mit tausend Teilnehmern. Stattdessen befinden sich nur 178 Personen an Bord, davon einhundert Passagiere aus Deutschland, Frankreich, Norwegen, England, Schottland, ein Pärchen stammt aus der Schweiz. Kaum jemand fährt alleine, die meisten sind über Sechzig. Sie werden von Ornithologen, Geologen und Meeresbiologen begleitet, dem so genannten Expeditions-Team, das sich an Land um die Gäste kümmert und an Bord Vorträge hält. Da ist die norwegische Gastlektorin Benedicte Ingstadt, die als Teenager in den 1960er Jahren mit ihren Eltern den Beweis erbuddelte, dass Wikinger tatsächlich Amerika entdeckten. Der amerikanische Geologe Bob Rowland, der bereits 1967 den Südpol erforschte. Tudor Morgan aus Wales, der für sein Engagement in der Antarktis von der Queen einen Polarorden erhielt.

Ein Gong. Mittagessen. Wegen der kanadischen Gesundheitsbehörden dürfen momentan Salz und Pfefferstreuer nicht mehr auf den Tischen stehen, jedes Besteck ist in eine Stoffserviette eingeschlagen, Cornflakes gibt es nur im Karton. Am Eingang wartet der Koch mit einer Flasche Sprühseife. Noch mehr Angst als vor Eisbergen oder Eisbären hat man an Bord vor Virusinfekten. Falls einer ausbricht, hat das Abwassersystem schlechte Karten, zudem könnten boshafte Behörden das Schiff unter Quarantäne stellen. Am Buffet warten die Entdecker auf frische Langustenbeine. Ihr Dresscode: Praktisches aus Baumwolle. Einige gehen am Stock.
Oben, auf Deck 7: Die Tür zum Maschinenraum ist offen. Der Whirlpool wird repariert. Im Gang steht ein Hauch von Pups. Manchmal drückt der Wind die Abluft zurück in den Belüftungsschacht. Es bimmelt, eine Durchsage. Die Vorträge beginnen. Im Bistro erklärt die Meeresbiologin Marine, warum Vögel Plastik fressen, und was das Aufbrechen der Nahrungsketten für den Menschen bedeutet. Nichts Gutes. In der Bar nehmen Entdecker Tabletten gegen die Seekrankheit. Andere sitzen und schauen. Ein Pärchen spielt Rummikub. In den vergangenen Tagen haben sie bereits eine Menge gelernt: Eisberge umkreisen Grönland gegen den Uhrzeigersinn. Inuit-Gemeinden haben Probleme mit Alkoholismus. Der deutsche Polarforscher Alfred Wegener ist in Eismitte erfroren. Specksteinlampen funktionieren mit Robbenfett. Wale sind mit Nilpferden verwandt. Und das Wort „Titanic“ ist auf einem Schiff in etwa so beliebt wie „Voldemort“ bei Harry Potter. Die MS Spitsbergen bewegt sich. Es ist ein langsames Auf und Ab, ein damit einhergehendes sanftes Seitwärts, mal nach links, dann nach rechts, als säße sie am Ende eines Kochlöffels, mit dem ein Riese gemütlich das Meer rührt. Dumpf schlagen die Wellen gegen ihren Rumpf. „Brumpf, doumph“, macht es am Bug. Hoch, runter. Es rauscht. Rechts links. Es brummt: „Grumpf. Rsch“. Ein Entdecker schnarcht.

Ein Eisbär steht am Ufer und winkt. Neben ihm zwei kleine Mädchen. Sie halten ein Banner, auf dem der Name ihres Ortes steht: Makkovik. Hinter ihnen laufen winzige neonorangene Punkte die Uferstraße hoch. Einige Entdecker suchen die Kirche der Herrnhuter Missionare, andere fotografieren Wollgras am Wegesrand. Viele entdecken, dass labradorische Bremsen tüchtig zubeißen.
Majestätisch liegt die MS Spitsbergen in der windstillen Bucht und wacht über das Treiben an Land wie eine Ameisenkönigin über ihr ausgeschwärmtes Volk. Überall auf der Welt bezahlen Kreuzfahrtunternehmen eine so genannte „Town-Fee“, dafür werden die Passagiere an Land begrüßt, bespaßt und manchmal auch verköstigt. Weiße Wolken hängen tief in den Spitzen der dunkelgrünen Tannen wie schlecht ausgekämmte Fussel in einer nagelneuen Bürste.

Am Waldrand erklärt Erica Oberdorfer Besuchern die Pflanzenwelt. Einige besichtigen das Heimatmuseum, in dem es angeblich spukt. In der Kirche wird gesungen. Die beiden Dorfpolizisten der Royal Canadian Mountain Police haben sich in Schale geschmissen. Sie sprechen über Fischerei, über Eisbären und den Frost, der die 360 Seelen-Gemeinde von November bis Mai von der Außenwelt abschneidet. Später besuchen alle die neu gebaute Sporthalle, essen selbstgebackene Muffins, singen die labradorische Nationalhymne und beklatschen die „Inuit-Games“, jene Leibesübungen, welche die Inuit seit jeher von Kindesbeinen an trainieren. Am Spätnachmittag geht es zurück zum Schiff, vorbei an weichen, graugrünen Moosteppichen und leuchtenden Blüten. Die Luft riecht süßlich. Man sieht Bäume mit filigranen, silbernen Ästen und hunderten grellgrüner, junger Triebe. Es ist, als würde die Natur hier oben auf der Grenze zum borealen Nadelwald wissen, dass sie eigentlich keine Chance hat. Als hätten alle Pflanzen und Triebe im Mai einander zugerufen: „Los, Jungs, gebt alles!“
Eine mit Blue Curacao übergossene Riesenpavlova zieht am Bullauge vorbei. Es ist ein kleiner Eisberg. Das eingeschlossene Regenwasser reflektiert Türkis. Unter Deck führen Mitglieder der Crew Tricks zum Handtuch- und Serviettenfalten vor. Auf dem Sonnendeck sitzen ein paar Entdecker in ihren neonorangenen Windjacken. Der Horizont ist blau, weiss, eisrosa und silbergrau. In den folgenden Tagen führt sie die Route nach Süden. Dorthin, wo Basken einst Nordamerikas älteste Walfang-Station betrieben. Wo der englische Arzt Dr. Wilfred Grenfell die ersten Schwesternstationen errichtete. Wo der zweithöchste Leuchtturm Kanadas die Strait of Belle Isle ein bisschen vergeblich bewacht, denn bis heute sind dort 85 Schiffe gesunken.

„Waaah!“ Am Kai steht ein kugelrunder Wikinger und haut mit dem Schwert auf sein Schild. Er heisst Kol und arbeitet hier. L’Anse aux Meadows ist teils lebendiges Museumsdorf, teils Gegend mit Parkplätzen für Busse, Autos und weitem Grasland. Die Entdecker besteigen einen Bus, der sie gleich nach Norstead bringt, wo andere verkleidete Wikinger in Langhaus-Nachbildungen leben, kochen und Touristen erläutern, wie man Met braut, Töpfe drechselt, Flachs kämmt und- ebenfalls-„Waaah!“ schreit, bevor sie schlussendlich an den Ort gelangen, an dem Anne-Stine und Helge Ingstadt einst jeden Sommer nach Artefakten gruben, um zu beweisen, dass der Mythos von Vinland kein Märchen war.
Ihre Tochter, die heute weisshaarige Benedicte Ingstadt, sitzt auf einer Bank im Besucherzentrum. Sie ist umringt von Büchern, Leuten, Andenken und Glasvitrinen, die den Unterschied zwischen Helluland und Markland erklären, zwischen Leif und Bjarni, zwischen der Grœnlendingasaga und Eiriks Saga. Man muss sich ihre Kindheit ein bisschen wie die der Tochter von Indiana Jones vorstellen, nur ohne Action: Graben, nassgeregnet werden, frieren, noch mehr graben. Auf einer hügeligen Wiese weit vor dem Besucherzentrum wachsen Schwertlilien. Dort fanden ihre Eltern einst den Beweis, dass Wikinger hier waren: eine kleine Anstecknadel.
Wind zupft Baiserhäubchen aufs Wasser. Windwirbel rasen wie irr übers Meer. In der Panoramabar erklärt die deutsche Geologin Friederike Bronny die 10 Grad Juli Isotherme, die imaginäre Grenze der Arktis. Denn Arktis, das ist überall da, wo es im Durchschnitt im wärmsten Monat Juli nicht wärmer als 10 Grad wird. Warum ausgerechnet diese Temperatur? Weil Bäume mindestens 10 Grad benötigen, um einen Wald zu bilden. Die Entdecker nicken. Sie lernen, dass Zwergbirken am Stein im Windschatten kriechen, und dass wegen der Erderwärmung Pflanzen und Tiere nordwärts ziehen. Teilweise haben die Inuit noch nicht mal Namen für die neuen Spezies, für Rotkehlchen zum Beispiel oder Arnika. „Oh!“ Ein Schrei reißt sie aus der Konzentration. „Da!“ John, der Ornithologe, steht mit ausgestrecktem Arm am Fenster. Einige springen ebenfalls auf. Wal? Eisberg? „Eine Spatelraubmöve!” sagt John glücklich und deutet auf einen grauen Fleck, der langsam über den Wellen verschwindet. Die Entdecker nicken und setzen sich wieder.

„Rechts die Alpen, unter uns der Mars“, erklärt die Fremdenführerin. Die Entdecker schauen ins Felsmassiv der „Table Lands“, einem Ausläufer des Nationalparks Gros Morne. Dann begutachten sie den säurehaltigen Boden, der orange-braun-gelb schimmert. Peridotit enthält zwar über 13 Schwermetalle, doch neulich wurden im Berginnern Mikroben gefunden. Deswegen hat die NASA Wissenschaftler geschickt, weil es hier möglicherweise zugeht, wie auf dem Mars. Weit geht der Blick über Geröll, Steine, dazwischen wachsen fleischfressende Pflanzen, Flechten, Moos und knöchelhohe, Jahrhunderte alte Bäumchen. Einige Entdecker gehen in die Knie und fotografieren. Wie im Vers von William Blake: „To see the world in a grain of sand and heaven in a wild flower.“
Ein paar Stunden später sind sie am Meer. Die Felswand vor ihnen besteht aus abertausenden hauchdünner grauer Längsrillen. Dies sei, als habe ein Riese ein Buch vom Meeresgrund hochgeholt und es ohne eine Seite zu verlieren quer auf die Küste gestellt, erklärt der Fremdenführer Die Entdecker staunen. Sie wandern weiter, durchs Gras. Vorbei an Waldhyazinthen und Vergissmeinnicht. Durch einen schattigen Wald mit kalkweißen Ästen und knallgrünen Trieben, mit Moos, Klee, roten Blüten und grünem Farn. Dann wird es wieder hell, sie laufen erneut aufs Meer zu, blicken weit über ein Moor zum Bergmassiv der Long Range Mountains. Die Luft ist weich, und es duftet nach Torf, Erde, Kräutern, Regen und Meer. Es ist ein bisschen, als habe der Schöpfer mal eben eine Pause eingelegt. Fehlt nur ein Schild am Felsmassiv: „Komme gleich wieder – Gott.“
Eine Stunde vor Mitternacht. Etwa dreißig Personen stehen an Deck und schauen in ein gesprenkeltes Firmament. „Da! Man kann die Tragflächen sehen“, sagt der Meeresbiologe Chris, der ihnen vor ein paar Stunden am Beispiel eines Schwarmes noch den Unterschied zwischen Delfinen und Tümmlern erklärt hat. Die anderen folgen dem Leuchtpunkt schweigend mit ihren Ferngläsern. Es ist die ISS Raumstation, die man in diesen Breitengraden besonders gut erkennen kann.
Am nächsten Morgen: Eine Kaimauer, Autos, dahinter die Stadt St. Johns. Die Entdecker sitzen mit dem Rücken zu den Fenstern. Vor einer gefühlten Ewigkeit waren sie in Gespenstersiedlungen, Fjorden, auf Inseln. Sie haben falsche Eisbären und echte Inuits gesehen. Wurden in Tenderbooten nassgeregnet, von Bremsen gebissen und von der Sonne gebräunt. Sie haben Wale, Adler, Delfine und Spatelraubmöven gesehen, und sie haben in Horizonte geschaut, die aussahen, als hätte der Himmel LSD genommen: Violett, gold, rot, gelb, rosa. Der Berufsverkehr, und sei es der der ältesten Stadt Nordamerikas, kann ihnen gelinde gesagt den Buckel runterrutschen. In einer Stunde werden sie von Bord gehen und verspüren, was die Engländer „Sealegs“ nennen. Ein sanftes „Nachschaukeln“. Es ist nur eine Kleinigkeit. Wie so vieles, das eigentlich groß ist.