Buchrezension, erschienen 2016 in der FAZ: Bei tiefster Ratlosigkeit hilft Beten
Bericht aus einer unsichtbaren Epoche: Richard Melville Hall, besser bekannt als Moby, blickt zurück auf die Anfänge des Techno, sein Leben als Veganer und seine Vorliebe für die Simpsons
Im Jahr 1976 sitzt ein zehnjähriger Junger allein im Auto auf einem Parkplatz in Connecticut. Er betrachtet seine Mutter, die nachts in einem Waschsalon arbeitet. Sie faltet Wäsche, raucht, weint. Dann hört er ein Lied im Radio, das ihn, den „Raumschiff-Enterprise“-Fan, auf seltsame Weise mit der Zukunft versöhnt. Die Welt muss größer sein, als das hier. Es gibt ein Entkommen, und es liegt irgendwo da draußen, im Äther. Das Lied hieß „Love Hangover“ von Donna Summer, und der zehnjährige Junge war Richard Melville Hall, den die Welt später als Technomusiker Moby kennen lernt.
Moby ist der Ur-Ur-Großneffe des Schriftsteller Herman Melville und hat nun ebenfalls ein Buch geschrieben, seine Lebenserinnerungen aus den Jahre 1989 bis 1999. In „Porcelain“ geht es um ihn, den veganen Christen, der keinen Alkohol trinkt, tagsüber Bibelgruppen unterrichtet und nachts auf Sexparties Platten auflegt. Es geht aber auch um eine Zeit, die online so gut wie nirgendwo zu finden ist. Fotos muss man suchen, kein Wunder, denn damals wäre es niemandem eingefallen, in einem Technoclub beknackte Selfies von sich zu machen, geschweige denn andere Gäste zu fotografieren. Wozu? So liest sich „Porcelain“ auch wie ein Bericht aus einer unsichtbaren Epoche.
Moby nimmt einen mit auf die Straßen des Meatpacking District, als dort im grauen New Yorker Morgenlicht noch Blut in den Pfützen schimmerte. Man schläft an seiner Seite in heruntergekommenen Fabrikgebäuden ohne fliessend Wasser, in denen man Nachtwächter monatlich mit 50 Dollar „Miete“ besticht und nichts zu essen hat. Man mixt mit ihm Kassetten und träumt davon, auch mal ein Lied zu komponieren, das Tony Humphries im Club Zanzibar 15 Minuten lang spielen kann.
Er beschreibt, wie Miles Davis einmal zufällig bei einem Soundcheck im Limelight vor seiner Bühne steht. Wie seine Ex ihn zum Konzert ihres neuen Freundes mitnimmt, der zufällig Jeff Buckley heisst. Wie Chloe Sevigny auf einer Party die einzige Frau ist, die mit ihm spricht, weil sie aus demselben Vorort stammen. Er erzählt von Arbeitsgeräten wie Samplern, oder wie er kleine Türme seiner Ausrüstung auf seinem alten Skateboard vom Club nach Hause schiebt, um Geld für ein Taxi zu sparen, was im Vergleich zu heute absurd wirkt, wo internationale DJs höchstens mit einem USB-Stick im Gepäck verreisen. Man fährt mit ihm durch das London der Neunziger Jahre, als es dort noch pro Quadratkilometer einen illegalen Piratensender gab, wohnt mit ihm in unbeheizten Bed&Breakfasts, hungert in Flugzeugen, weil keiner weiss, was vegan bedeutet. Man schaut an seiner Seite aus dem Fenster, sieht, wie der Regen des letzten Jahrtausends über die Glasscheibe mäandriert und empfindet mit ihm tiefste Verwirrung darüber, plötzlich neben Phil Collins bei Top of the Pops zu stehen. An einer Stelle beschreibt er das Elementare der frühen Technobewegung: Ohne die Hilfe von Konzernen stellten tausende von Menschen zeitgleich in den Städten der Welt neue Regeln auf – für ihre Art zu Feiern, für das Erzeugen und Vertreiben einer neuen Art von Musik, für ihre Haltung und ihr Aussehen; sie schufen Räume, gründeten Magazine, Radiosender, Unternehmen.
Für viele endete die Unschuld der Technobewegung, als die CDU den ersten Wagen auf der Berliner Love Parade mitfahren ließ. Für Moby endete sie, als er Mitte der Neunziger in einem seiner Lieblingsclubs, dem NASA, auflegen wollte und feststellte, dass sich niemand mehr für Freundlichkeit interessierte. Die Leute wollten Dusternis, sie wollten Breakbeats, je gebrochener, umso besser. Er fing an zu trinken, machte Punkmusik, blieb ratlos.
In dieser Zeit eilte ihm auch ein Ruf voraus: „Der ist schwierig, streng vegan, ein extremer Christ, der zertrümmert auf der Bühne seine Synthesizer.“ In Wahrheit war er ein feiner, sehr höflicher junger Mann, der auf Gemüse und die Simpsons stand, von Gott nicht sprach und darüber hinaus gern auf seinen Instrumenten herumhopste. Er hatte ein Interesse an Menschen, als wäre die Welt ein besonders seltsamer Ort. Small Talk gab es nicht, und wenn doch, war er komisch. Von Außen wirkte er damals ein bisschen wie der Woody Allen des Techno.
Wenn man nun rückblickend seine Memoiren liest, findet man Hinweise überall: Ängste, Neurosen, der Hang zur Genauigkeit, der unbedingte Wunsch, Widersprüche verstehen zu wollen, sich an Kleinigkeiten zu reiben – da schreibt ein Aussenseiter, der in Momenten tiefster Ratlosigkeit betet. Eine seiner Exfreundinnen vergleicht ihn gegen Ende des Buches, als er bereits zu lange zuviel trinkt, mit einem ängstlichen, getretenen Hund, der sich unter einer Treppe versteckt. Er selber sagt: „Ich konnte romantische Lieder schreiben, aber keine Beziehung aufrechterhalten“. Faxe und Schallplatten unterschrieb er damals oft mit einer kleinen Figur mit großer Nase, noch größeren Augen und einem länglichem Hund. Die Figur malt er heute noch, nur mit Fühlern auf dem Kopf.
„Porcelain“ ist ein Buch über das Träumen und Scheitern, über Einsamkeit und den Wunsch zu leuchten. Es erzählt vom Zauber hinter einer der letzten, großen Jugendbewegungen, und wie sie dusterer, härter, anstrengender, weniger glücklich wurde – und er mit ihr. Am Ende fährt Moby im Auto mit einem bewusstlosen Pornofilmregisseur auf der Rückbank in seine Vergangenheit und hört „Play“, das Album, das dazu beitragen wird, dass sich seine Platten bis heute über 20 Millionen Mal verkaufen.
Wer die elektronische Musik der Epoche verpennt hat, kann sich die Doppel-CD anhören, die praktischerweise „Music for Porcelain“ heisst. Auf der A-Seite befinden sich Songs von Moby, auch der erste Hit „Go“, der auf Angelo Badalamentis Musik für„Twin Peaks“ basiert. Auf der B-Seite sind Titel, die im Buch erwähnt werden: HipHop von Big Daddy Kane, Run DMC, A Tribe Called Quest, Techno, Dancehall, oder altbekannte House Hymnen wie „Definition of a track“ von Precious oder „Follow me“ von Aly-Us, „Set it Off“ von Strafe oder alte Love Parade Hits wie „Plastic Dreams“ von Jaydee.
AREZU WEITHOLZ