Die Stille


erschienen in der FAZ, 2001: Ruhe ist die erste Bürgerpflicht …denn sie klingt so sexuell

Auf dem Campus in Cambrigde ist es ruhig. Aus der Ferne hört man Autobahnrauschen. Die Hecken sind zu Rechtecken geschnitten. Ordentlich. Symmetrisch. Selbst das Universitätsgebäude sieht aus wie ein Stilleben aus Glas und Stein. Wie Waben stehen hinter der Mensa ein paar Appartmenthäuser. In einem wohnt die Familie Rogalsky. Vater Matt, Musiker, Mutter Laura, Forscherin, und Sohn Auden, zweieinhalb. „Sprechen sie bitte leise. Auden macht gerade Mittagsschlaf.“

Matt Rogalsky lächelt. Er sieht aus, als wäre er selber noch ein Student. Ist er aber nicht. Der 35jährige Kanadier ist Dozent, Musiker und Performance-Künstler.

Vor kurzem hat er ein Computerprogramm geschrieben, mit dem er die Pausen zwischen den Worten aus einer Radiosendung herausschneiden und aneinanderreihen kann. Das ist ein merkwürdiges Hobby.

Erklärt er das einem, wirkt er aber so normal als würde er Briefmarken sammeln und nicht – was heutzutage ja auch selten vorkommt – die Stille.

„Ich kam auf die Idee, als ich über Cash Boxen las.“ erzählt Rogalsky. In den USA, sagt er dann, gäbe es immer mehr Radiostationen, die solche Geräte in ihrem Sender installierten. Eine Cash-Box ist eine längliche, flache, graue Kiste, die vorne ein paar bunte Drehknöpfe hat, doch sonst nach nicht viel aussieht. Sprechbeiträge werden durch das Gerät geschickt, komprimiert, indem die Atempausen herausgenommen werden, und dann werden sie mit einer 30 -sekündigen Verzögerung gesendet. „Programmzeitreduktion“ nennen das die Fachleute. „Mehr Zeit für Werbung“, fordern sie. Hörer würden das ohnehin nicht merken, und ausserdem: „Tote Luft ist teuer.“

„Wie sparen wir Zeit?“ – von dieser Frage wurde die industrielle und technische Revolution immer und immer wieder angetrieben. Schnellere Toaster und ”Two-in-one“ Shampoos sind ebensolche Produkte unserer Ära wie es eine Webmaschine noch vor hundert Jahren war. Wir haben Anrufbeantworter, die über eine Taste verfügen, mit der wir Nachrichten von langweiligen Leuten schneller abhören können, ohne dass deren Stimme wie Micky Maus klingt. Im Jahr 1996 etwa kam ein Discman auf den Markt, mit dem man die Lücken auf einer CD schliessen konnte. „Geniessen Sie Musik ohne Leerzeit zwischen den Stücken.“ warb die Sony damals. Und selbst David Letterman sagte unlängst zu seinen Zuschauern: „Ich fasse mich heute kurz. Wir haben viele Umfragen durchgeführt. Die Leute finden, ich rede zuviel. Sie sagen, das verzögere die Show.“

Für manche klingt das wie dummes Zeugs. Da könnte man ja auch auf den Gedanken kommen, aus der Übertragung eines Fussballspiel jene Sekunden herauszuschneiden, in denen die Spieler innehalten, um zu überlegen in welche Richtung sie den Ball denn nun schiessen sollen.

Stille bemerkt man erst, wenn es sie nicht mehr gibt. Schon immer haben sich die Leute vielmehr über das Gegenteil, den Lärm, beklagt. Der römische Dichter Juvenal schimpfte im zweiten Jahrhundert n.Chr.: „Es ist absolut unmöglich, irgendwo in der Stadt (Rom) zu schlafen.“ Und Schiller forderte, wenn auch erfolglos, Ruhe als erste Bürgerpflicht ein.

Insgeheim haben die Menschen Angst vor dem Nicht-Klang. Das ist kein Wunder. Beunruhigendem Lärm kann man auf den Grund gehen. Beunruhigende Stille wirkt unheimlich. Negativ. Sie lastet auf einem. Eine Unterhaltung ist dann „angeregt“, wenn möglichst wenig geschwiegen wird. Denn Stille bedeutet nicht nur, dass man seine Ruhe hat. Stille heisst auch, dass niemand ein Geräusch macht, dass der Mensch alleine ist.

Der Philosoph und Forscher Blaise Pascal beschäftigte sich zeitlebens mit dem Nichts. Er untersuchte das Vakuum und fragte, ob es tatsächlich leer wäre. Als er sich die Stille im Nichts eines unendlichen Universums vorstellte, schrieb er: „Das ewige Schweigen macht mich schaudern.“

Taoisten und Sufisten sehen das anders. In ihrem Universum ist die Stille etwas Positives. In Indien glaubten die Leute lange Zeit, es gäbe zwei Sorten von Klang. Der Klang der Götter, der -unhörbar für den Menschen- durch eine Vibration im Äther erzeugt wird. Und den von Menschenhand erschaffenen, der die Luft vibrieren lässt. Eine Melodie, so sagten sie, sei nichts weiter als die Kombination aus Atem und dem Feuer des Geistes. So wie die Pause der Pulsschlag der Musik ist, so ist die Atempause der Herzschlag der Sprache.

Psychologen haben festgestellt, dass ein normaler Mensch, der schnell spricht, bis zu 150 Wörter pro Minute von sich gibt, ein Zuhörer aber bis 600 Wörter pro Minute aufnehmen kann. Für viele Radiomacher heisst das: Die Sprecher sind zu langsam.

Hinzu kommt eine Veränderung unserer Hörgewohnheiten. Früher hörten die Leute Radio und taten sonst nichts anderes. Heute ist ihre Aufmerksamkeit partiell. Sie schalten ab, wenn es zu ruhig wird.

Nun gibt es aber ausgerechnet in der klassischen Musik herausragende Momente der Stille, wunderbare langsame Sätze wie der „Heilige Dankgesang“ aus Beethovens Streichquarett Opus 132. Und Haydns Kompositionen etwa verlangen von den Musikern, die Momente der Stille ebenso zu meistern wie jeden anderen Takt. Viele seiner Stücke werden heute weitaus schneller gespielt als noch vor hundert Jahren. Nicht, weil es den Musikern so schwer fällt, die Pausen einzuhalten. Dem Publikum fällt es schwer sie auszuhalten.

Nur Liebhaber merken den Unterschied. Private Radioanstalten wollen aber Geld verdienen und dafür brauchen sie die Masse, nicht die Minderheit.

Rogalsky findet, es wird Zeit ein wenig Ruhe zu retten. „Die Stille, die ich sammele, ist voller Geräusche, die sonst überhört würden.“

An einer Wand in seinem Wohnzimmer sieht man Zahlen: 00.15.53.96. Sie zeigen an, wieviel Stille er schon hat. Ein Videoprojektor ist an den Computer angeschlossen, der Computer wiederum an ein Radiogerät. Rogalsky hat die Maschinen um zehn nach Zwölf angeschaltet. Jetzt ist es Drei. Bisher wurde also im Radio etwas über eine Viertelstunde geschwiegen? “Ja. Wollen Sie einmal hören, wie es klingt?“ Und plötzlich erfüllt eine merkwürdige Unruhe den Raum. Immer wieder holt da einer Luft, atmet ein, raschelt mit Papier, atmet aus, setzt wieder an, um etwas zu erzählen und sagt am Ende doch nichts. Das macht einen ganz unruhig. Hibbelig.

„Meine Frau findet, das klingt irgendwie sexuell,“ sagt Rogalsky.

In der Satire „ Doktor Murkes gesammeltes Schweigen“ erzählt Heinrich Böll die Geschichte eines gescheiten Rundfunkredakteurs, der von seinem Vorgesetzten verdonnert wird, eine Rede neu zu schneiden. Das Wort „Gott“ soll durch die Formulierung ”Jenes höhere Wesen, das wir verehren“ ersetzt werden. Die Tonbandschnippel, die das Wort ”Gott“ enthalten, bewahrt Murke in einer Zigarrenkiste auf. In einer Keksdose jedoch ist sein grösster Schatz: Schnippel mit Schweigen. Die nimmt er mit nach Hause, klebt sie aneinander, und hört sie sich in Ruhe an.

Rogalskys Idee erinnert an diese Satire, aber sie hat auch Ähnlichkeit mit Algorithmischer Komposition. Wie John Cage und Karlheinz Stockhausen interessiert sich Rogalsky mehr für den Prozess, der zur Musik führt, als für das Resultat.

Der Komponist John Cage begab sich im Jahr 1952 einmal in eine schalldichte Kammer, um herauszufinden, wie Stille klingt. Er kam zu dem Schluss: „Stille gibt es nicht.“ Das Wort sei bestenfalls eine Ironie . Cage hatte in der Kammer zwei unterschiedliche Klänge gehört. Einen hohen Ton, den seines Nervensystems, und einen tieferen, seinen Blutkreislauf. Es wäre dem Menschen unmöglich, wahre Stille zu erleben, so lange sein Körper am Leben ist. Cage‘s Komposition 4′ 33“ gehört zu den bekanntesten Beispielen moderner Musik. Der Pianist David Tudor führte 4′ 33“ am 29. August 1952 in einem Auditorium der Harvard-Universität erstmals auf. Er sass vier Minuten und dreiunddreißig Sekunden schweigend vor einem geschlossenem Klavierdeckel. Das Publikum wartete darauf, dass etwas passiert, hörte hin, und hörte doch nur sich selbst und den Regen, der auf das Dach prasselte und – bekam am Ende schlechte Laune. Cage, der später auch ein Buch über die Stille verfasste, schrieb darin: ” Ich bin hier, und es gibt nichts zu sagen, und ich sage es, und das ist Poesie.“

Die Idee, Nebengräusche willkommen zu heissen, stammt aber nicht von Cage und auch nicht von Rogalsky. 1920 komponierte Eric Satie Mobiliarmusik. Stücke wie ”Tönender Steinfussboden“ oder ”Vorhang eines Raums der Stadtverwaltung“ hatten keine Dramaturgie, keinen Anfang und kein Ende. Satie fand es amüsant, Musik zu erschaffen, auf die man nicht hinhören müsste. Sein Publikum enttäuschte ihn. Er bat es zwar immer wieder: ”So unterhalten sie sich doch.“ Das Publikum war aber so bezaubert von den Stücken, dass es schwieg.

Das Schweigen, das Rogalsky bisher sammeln konnte, befindet sich auf der Festplatte seines Computers. Heute, am 12. Dezember 2001, wird er anlässlich des Projektes „S“ einen Tag lang das Schweigen des Senders BBC Radio 4 aufnehmen.

Das presst er dann auf 24 CDs, pro Stunde eine, und verkauft sie an Liebhaber. ”Am 12. Dezember 1901 schickte der Italiener Gugliemo Marconi elektromagnetische Wellen von Cornwall in England über eine Strecke von 3.400 Kilometern nach Neufundland. Genauer: den Buchstaben „S“ im Morsecode.“ erklärt Rogalsky. Marconi bewies damals, dass sich Funkwellen nicht nur bis zum Horizont, sondern auch längs der Krümmung der Erdoberfläche ausbreiten. Vor genau hundert Jahren also wurde Stille des Äthers gebrochen. Für immer.

AREZU WEITHOLZ